Veröffentlicht am 06.12.25

Am Stammplatz des «lebendigen Geistes»

Gasthaus-Weinstube «Hackteufel» in Alt-Heidelberg (Foto: Carl Bossard)

Dass ein Philosoph seinen Stammplatz in einem Gasthaus hat, mag überraschen. Aber gerade dieser Ort eignet sich als Denkfigur fürs gute Gespräch. Auf Hans-Georg Gadamers Spuren in Alt-Heidelberg.

Von Carl Bossard

Ich war letzte Woche in Heidelberg, beruflich unterwegs. Nach der Arbeit blieb stets ein Rest von Unruhe in mir: eine Mischung aus geistigem Angeregt-Sein und leichter Übermüdung; Städte wie Heidelberg verstärken das noch. Und so landete ich – beinahe automatisch – im «Hackteufel». Ein kleines Gasthaus, einen Schritt entfernt von der Heiliggeistkirche, eingespannt zwischen Touristenströmen und studentischer Gewohnheit, fast direkt am Neckar gelegen. Und dort, in der Fensterecke, ein unscheinbarer Tisch, an der Wand ein Porträtbild von Hans-Georg Gadamer und der Hinweis: Stammplatz des «lebendigen Geistes». Per Zufall kam ich darunter zu sitzen.

Ein Stammplatz, an dem etwas geblieben ist.
Ich hatte von diesem Tisch gehört, aber nichts bereitet darauf vor, wie selbstverständlich er dasteht. Kein musealer Ernst, keine Aura der Verehrung. Die Sitzecke mit dem Bild erhebt den Philosophen nicht zur Statue, sondern hält ihn fest in jener Haltung, die sein Denken auszeichnete: Geist als etwas Lebendiges, Bewegliches, Geselliges. Nicht der Geist des Systems, sondern der Geist im Gespräch. Gadamer als Liebhaber des Sensus communis, des gesunden Menschenverstandes – nicht im Sinn banaler Alltagsvernunft, sondern als gemeinsame Urteilskraft, die in der geteilten Welt des Gesprächs entsteht.

Ganz spontan stellt sich der Eindruck ein, Gadamer sei gerade erst aufgestanden, um kurz frische Luft zu schnappen. Ein Stammplatz, an dem etwas geblieben ist.

Verstehen als Geschehen zwischen Menschen
Ich kam zweimal dorthin, zuerst neugierig und begleitet von Berufskollegen, dann beinahe suchend und allein. Nach Momenten des Lehrens, nach Gesprächen mit Studierenden über das Systematische der Lehr- und Lernprozesse, über die Effektkräfte im Bildungsfeld, wirkte der Hackteufel wie ein Gegenstück: weniger institutionell, weniger ordnend. Ein Raum, in dem Gespräch nicht geplant, sondern einfach möglich ist.

Hans-Georg Gadamer (Foto: Isabel Hellmich, Heidelberg)

Hans-Georg Gadamer (Foto: Isabel Hellmich, Heidelberg)

Vielleicht war es dieser Kontrast, der Gadamers Präsenz so lebendig machte. Sein hermeneutischer Grundgedanke – dass Verstehen ein Ereignis ist, ein Geschehen zwischen Menschen – bekommt plötzlich eine räumliche Temperatur. Zwischen dem Holz der Tische, den Stimmen der Gäste und der leicht schiefen Decke wird deutlich, dass «Geist» kein abstrakter Besitz ist, sondern eine Bewegung, die sich ereignet, wenn man sich auf Welt und Gegenüber einlässt.

Der stille Unterricht des Ortes
Beim zweiten Mal setzte ich mich nicht an seinen Platz. Das wäre mir zu nahe gewesen. Aber ich blieb in Sichtweite und beobachtete, wie sich Gespräche entzündeten, verstummten und wieder in Fahrt kamen. Wie Fremde plötzlich miteinander lachten. Wie eine Bedienung einem älteren Mann die Hand auf die Schulter legte, als kenne sie ihn seit Jahren.

Ich erlebte, wie ungezwungene Situationen etwas Belebendes, vielleicht sogar Lehrhaftes in sich tragen. Ohne Erklärung, ohne Didaktik. Solche Momente zeigen vielleicht, wie es gemeint ist.

Plötzlich verstand ich, warum das Porträtbild nicht «Dem grossen Philosophen» oder «Dem Ehrenbürger» gewidmet ist, sondern dem «lebendigen Geist». Es ist eine Einladung: nicht das Denken zu verewigen, sondern es fortzusetzen. Nicht zu rezitieren, sondern zu antworten.

Was vom Besuch bleibt
Als ich nochmals dort sass, diesmal ganz allein und beobachtend, wurde mir klar, dass dieser Ort ein leises Gegenbild zu vielen unserer heutigen Diskursformen ist: jenen performativen, flüchtigen, oft polarisierenden Bühnen, auf denen kaum noch gefragt wird, sondern behauptet.

Der «Hackteufel» erinnert an etwas Einfaches und zugleich Herausforderndes: dass Verstehen ein gemeinsamer Akt ist. Dass Wahrheit nicht im Monolog entsteht und auch nicht im Schlagabtausch. Und dass die geistige Welt, zu der Gadamer eingeladen hat, nicht in Bibliotheken eingeschlossen bleibt, sondern an Orten wie diesem Lokal weiteratmet – im Stimmengewirr, in der Wärme einer Weinstube, in der Bereitschaft, sich ins Gespräch zu wagen.

Ich verliess das Gasthaus mit dem Gefühl, dass ich weniger «Gadamer besucht» als vielmehr einen Denkstil berührt hatte. Einen, der sagt: Geist lebt, wo Menschen einander zuhören. Und vielleicht liegt darin das Unzerstörbare von Gadamers Vermächtnis.