Veröffentlicht am 29.03.20

Digital first und Mobil only

oder: Die Corona-Welle reiten. Beispiel Schule und Unterricht

Viele Akteure in Bildungseinrichtungen erleben gerade ein Déjà-vu. Digitalisten und Daten-Ökonomen nutzen die Corona-Pandemie, um ihre lange bekannten Digitalisierungsstrategien und darauf aufbauende Geschäftsmodelle zu propagieren. Covid-19, geschlossene Kitas und Schulen und das dadurch notwendig gewordene, flächendeckende Home Schooling sind der aktuelle Anlass, Bekanntes zu preisen. Same procedure as every time. Dabei geht es um mehr als das Etablieren einer technischen Infrastruktur zur automatisierten Beschulung per (Bundes-)Schul-Cloud. Es geht um mehr als die bundesweite Standardisierung digitaler Testumgebungen für die empirische Bildungsforschung. Ziel ist die seit Jahren propagierte Ökonomisierung und Privatisierung auch des deutschen Bildungssektors. Die Praxis zeigt aber: Wir müssen Informationstechnologie (IT), Software und Netzstrukturen neu denken, bevor (!) sie in Schulen zum Einsatz kommen kann.

Argumente aus der Mottenkiste

Selbst entschiedene Gegner der Digitalisierung von Schule und Unterricht müssten dank Corona-Krise und geschlossener Schulen jetzt doch endlich das Potential von Digitaltechniken zur Beschulung erkennen, heißt es unisono bei den bekannten Anbietern von Clouddiensten und Lernplattformen, unterstützt von Vertretern der Presse. Zwar sei die technische Infrastruktur erst im Aufbau und stehe noch nicht flächendeckend zur Verfügung. Selbst da, wo Online-Systeme schon länger im Einsatz seien wie mit Mebis in Bayern oder (einem schnell aufgesetzten) Moodle in Baden-Württemberg, reichten die Kapazitäten bei weitem nicht – oder werden gleich von Hackern lahmgelegt. Aber das könne doch nur als Auftrag zu schnellerem Auf- und Ausbau der Netze verstanden werden. Die Schulpflicht bestehe schließlich weiter und zur Überbrückung seien Schulportale doch sinnvoll. Aktuell würden sogar viele der kostenpflichtigen Lernangebote für ein paar Wochen kostenlos zum Testen offeriert. Das sei die Gelegenheit, Online-Angebote auszuprobieren, ihren Nutzen zu erkennen und als Bestandteil von Schule und Unterricht zu etablieren, übrigens nicht nur in Schulen. Der Leiter eines Rechenzentrums einer staatlichen Bildungseinrichtung schwärmt: „das Schöne an dieser Situation ist, dass es für uns als Hochschule auch eine Riesenchance beim Thema Digitalisierung ist.“ Das BMBF verschickt am 26. März die dazu passende Pressemitteilung 036/2020: „Entschlossenes Handeln in der Krise! Digitalpakt-Mittel sollen unkompliziert Unterrichtsabsicherung in Corona-Zeiten unterstützen.“ 100 Millionen Euro aus dem DigitalPakt Schule stünden bereit für den schnellen Aufbau der Infrastruktur und die Ausweitung des digitalen Unterrichts.

Die vom Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung (BMBF), mit 8 Mio. Euro finanzierte und vom Hasso-Plattner-Institut mitentwickelte HPI-Schul-Cloud wird von Frau Karliczek vorübergehend für all die Bundesländer freigeschaltet, die noch keine eigene Cloud-Lösung einsetzen (PM 037/2020). Der IT-Lobbyverband bitkom fordert begleitend eine bundeseinheitliche Lösung und stellt es als Ergebnis einer Schülerbefragung dar (bitkom 2020). HPI-Vorstand Christoph Meinel hatte diese Bundesschulcloud bereits 2017 (noch vor der Corona-Krise) in der FAZ als „Vision“ vorgestellt: eine bundesweite Cloud, die durch die Einbindung der Universitäten und Weiterbildungseinrichtungen sogar zu einer Bildungscloud für alle Bürgerinnen und Bürger werden könnte. Das immer wieder bemühte Argument heißt Netzwerkeffekt und bedeutet: Je mehr Daten zentral gesammelt und ausgewertet werden, desto höher die Effizienz der automatisierten Datenverarbeitung (die sog. Künstliche Intelligenz). Nach IT-Systemlogik ist das korrekt. Nur sind Sozialsysteme keine IT-Systeme.

Ausgeblendet werden alle wissenschaftlichen Studien, die das Versagen von Digitaltechnik in Schulen und Hochschulen seit Jahren belegen (siehe u.a. Lankau 2019). Deren einhelliges Ergebnis: Digitaltechnik generiert weder Nutzen noch Mehrwert. Das heute übliche Hauptargument ist daher die „Lebenswirklichkeit der Kinder“. Entscheidend sind bekanntermaßen qualifizierte Lehrkräfte, ein gut strukturierter Unterricht und ein lernförderliches soziales Umfeld. Gerade für sozial Benachteiligte sind Schulen zudem sozialer Schutzraum.

Egal. Jetzt müssen alle zumindest bis Ostern oder bis zu den Sommerferien digital arbeiten. Dabei können das nur gut strukturierte und disziplinierte Schülerinnen und Schüler alleine. Für die dringend benötigte direkte Rückkopplung müssten Lehrkräfte auf die Rechner der Kinder zugreifen können (Fernzugriff; Remote Access), um nicht nur zu unterstützen, sondern auch kontrollieren zu können, ob die Kinder am Bildschirm sitzen und die Aufgaben machen anstelle der Geschwister oder Eltern. Das wäre aber Kontrolle, kein pädagogisches Handeln und zugleich ein Widerspruch zum notwendigen Vertrauen, das insbesondere für das sozial isolierte Lernen zwingend ist.

Egal auch, ob Schülerinnen und Schüler, ob Lehrkräfte und Eltern darauf vorbereitet sind oder nicht. Corona schafft Fakten. Das Thatchersche TINA-Prinzip (There Is No Alternative) wird reanimiert, um gar nicht über Alternativen (analoge Angebote, nichtkommerzielle Lösungen mit Open Source) nachdenken zu müssen. Wie üblich bei Digitalisierungskampagnen für Bildungseinrichtungen wird weder zwischen Altersstufen, Schulformen, Fächern oder Sozialstruktur der Schülerschaft unterschieden: „One size fits all“ wird zu: „Eine Technik für alle wird es richten.“

Scheingefechte mit Schattengegnern

Konsequent werden altbekannte Scheingegnerschaften behauptet – Technikbefürworter gegen vermeintliche Technikgegner –, obwohl sich die Gegnerschaft nicht am Einsatz von analogen oder digitalen Medien oder dem Einsatz von Medientechnik im Unterricht entzündet. Gestritten wird darüber, ob Schülerdaten aufgezeichnet und nach den Vorgaben und Prämissen der Softwareanbieter in Datenbanken ausgewertet werden dürfen. Gestritten wird darüber, ob Bildungseinrichtungen ein weiteres Geschäftsfeld der Datenökonomie werden oder Schutzräume für Minderjährige bleiben, deren Lernbiographien und Entwicklungswege und Persönlichkeitsentwicklung nicht von IT-Monopolen verdatet werden dürfen.

Die Gretchenfrage (Grunwald 2019) ist nicht, welche technische Codierung Medien haben, sondern: Was passiert mit den Daten? Wer steht hinter den Anwendungen, welche Konzerne und welche Geschäftsmodelle? Arbeiten im Netz generiert permanent Daten. Diese Nutzerdaten werden in Datensilos (Peter Ganten, zit. n. Knop 2018) gesammelt und mit Hilfe von Big Data ausgewertet. Bei Bildungseinrichtungen heißt dieses algorithmische Auswerten und Profilieren der Lernenden: Learning Analytics. Diese Daten über Lernverhalten sind dann die Grundlage für die datengestützte Schulentwicklung der empirischen Bildungsforschung. Aus Lernprozessen wird ein permanentes und kleinteiliges Vermessen. (Hartong 2019). Das Ziel ist, Lernprozesse computergesteuert (algorithmisch berechnet) zu optimieren. Aus Kindern und Jugendlichen vor dem Bildschirm werden Probanden zur Optimierung der Systeme.

In Folge entstehen vollautomatisierte Systeme zum Beschulen und Testen von (automatisiert prüfbaren) Lernergebnissen. Die Systeme seien einsatzbereit, erklärte Fritz Breithaupt, Professor in New York schon 2016, es fehlten nur die Freilandversuche. Der Digitalpakt Schule schafft dafür die Infrastruktur (Breitbandanschluss und WLAN in jedem Klassenzimmer), obwohl gerade Endgeräte zu Hause gebraucht würden, aber logisch ist derzeit wenig. Immerhin das Ziel ist klar: die netzbasierte und computergesteuerte De-Humanisierung von Schule und Unterricht (Lankau 2019).Über technische Alternativen für den Einsatz von Digitaltechnik an Schulen ohne Rückkanal für Schülerdaten wird nicht einmal diskutiert.

Politische Verantwortungslosigkeit

Schulen ans Netz war die Maxime von1996 bis 2012 (BMBF, Deutsche Telekom). WLAN für alle Schulen ist die Agenda heute. Der Slogan politischer Verantwortungslosigkeit dafür ist „Digital first. Bedenken second.“ Nur wer so technikgläubig und bar jeglichen technischen Sachverstands argumentiert, kann gleichzeitig und leichtfertig ganz Deutschland zur Beta-Republik ausrufen (67. Ordentlicher Parteitag der FDP, 23.-24. April 2016, Berlin).

„Beta-Version“ nennt man in der Software-Entwicklung instabile Testversionen, die nur an Entwickler und Freiwillige (Beta-Tester) ausgeliefert werden. Die Bundesrepublik Deutschland mit ihrer über siebzigjährigen friedlichen (!) und wirtschaftlich prosperierenden Nachkriegsgeschichte als „Beta-Version“ zu bezeichnen ist bestenfalls Hybris von Digitalgläubigen ohne Geschichtsbewusstsein. Bewährte Systeme zu destabilisieren, um digital basierte Äquivalente zu etablieren, ist aber unter dem Schlagwort „Disruption“ Agenda und Ziel der Neoliberalen. Nach der produzierenden Industrie und dem Arbeitsmarkt gilt es jetzt, die Sozialsysteme Bildung, Gesundheit und Rente nach marktradikalen Prämissen umzubauen. Das sind die Gesellschaftssysteme, denen sich durch Vorsorgeuntersuchungen und Schulpflicht niemand entziehen kann. Es sind zugleich die Systeme, die den Menschen das Mindestmaß an sozialer Sicherheit und Vertrauen in den Staat geben. Zum Arzt und in die Schule kann jede und jeder gehen. Bisher. Das Desaster der kaputt gesparten und auf Effizienz getrimmten Gesundheitssysteme in Italien, Israel, den USA oder Groß-Britannien zeigt, was Deutschland blüht, wenn die soziale Marktwirtschaft nach angelsächsischem Vorbild weiter demontiert wird.

„Digital first“ liegt dafür voll auf der Linie (und dem intellektuellem Niveau) eines Donald Trump, der mit seinem „America first“ eine Bewegung in Gang gesetzt hat, die sich weder um internationale Verträge noch wissenschaftliche Expertise oder gesellschaftliche Bezüge bemüht. Doch selbst der amerikanische Präsident käme nicht auf die Idee, aus der erkennbar unterkomplexen Propagandafloskel ein „America Only “ zu machen. Diese Zuspitzung bleibt der deutschen Staatsministerin für Digitalisierung, Dorothee Bär, vorbehalten. Im Interview mit der FAZ zur Corona Krise, bekennt sie: „Mein persönliches Arbeiten lautet ohnehin: nicht mobile first, sondern mobile only“.(Frasch, 2020)

Statt „Arbeiten“ hätte sie treffender gesagt: „Mein Auftrag lautet: Mobil Only“. Auftraggeber wären die Mobilfunkanbieter. Das Ziel: Daten aller Bürgerinnen und Bürger rund um die Uhr (24/7) zu speichern und auswerten zu können, wie aktuell zu Handydaten und Bewegungsprofilen diskutiert wird.

Eine Staatsministerin als Testimonial (Werbebotschafterin) der Telekom oder von Vodafone? Das passt immerhin exakt zu anderen Aussagen im Interview. Gefragt, ob eLearning in der Krise Schule machen könne, antwortet sie, diese Angebote würden nicht nur in Krisenzeiten benötigt. Über deren Einsatz dürften vor allem nicht die Lehrkräfte entscheiden: „Klar ist jedenfalls, dass die Nutzungen digitaler Möglichkeiten im Unterricht nicht dem Zufall oder der Leidenschaft einzelner Lehrerinnen und Lehrer überlassen werden darf. Die Kultusministerien der Länder müssen hier viel aufgeschlossener sein.“

Aufgeschlossener sein müsste zunächst Frau Bär gegenüber dem Rechtssystem der Bundesrepublik und der Funktion des Föderalismus. Vielleicht kann ihr MP Söder auf die Sprünge helfen, der den Föderalismus der Länder gerade in Bildungsfragen sehr wohl als Bollwerk gegen Direktiven aus Berlin einzusetzen weiß. Die Bildungshoheit liegt bei den Ländern und wird z.B. für die Qualität des Bayerischen Abiturs in Anspruch genommen . Aufgeschlossener sollte sie auch gegenüber der grundgesetzlich zugesicherten Methodenfreiheit jeder einzelnen Lehrerin und jedes einzelnen Lehrers sein. Weder ein Kultusminister noch eine Schulleiterin kann danach einer Lehrkraft vorgeben, welche Medien und Techniken er oder sie im Unterricht einsetzt. Festgelegt werden in Bildungsplänen Bildungsziele, nicht Methodik oder Medieneinsatz.

Richtig ist: Der Digitalpakt Schule untergräbt mit den Verträgen tendenziell auch dieses Grundrecht. Wer als Schulleiterin oder Schulleiter Paktgelder abruft, unterschreibt, das alle Lehrkräfte der Schule im Einsatz der Technik geschult werden und diese im Unterricht eingesetzt wird. Damit agiert die Schulleitung dank Digitalpakt gegen die Methodenfreiheit und gegen die Grundrechte der Lehrkräfte. Das ist kein Versehen. Zum neoliberalen Umbau von Bildungseinrichtungen gehört, kollegiale Strukturen durch hierarchische Führungsstrukturen (Governance) zu ersetzen. Zwar weiß man, dass Schulen und Hochschulen mit ihren im hohen Maße selbstverantwortlichen Lehrkräften auf Dauer nur durch Kollegialität, Transparenz und Diskurs zu leiten sind. Aber Rechts- und die dadurch geschützten Sozialsysteme sind für Neoliberale wie Digitalisten allenfalls lästig. In „Corona-Zeiten“ müsse man zur Not eben auch die Europäische Datenschutzgrundverordnung (EU-DSGVO) oder andere Rechtsverordnungen außer Kraft setzen, wenn sie schnelle Lösungen verhinderten.

Nur dann kann z.B. Microsoft-Teams oder Office 365 in Schulen eingesetzt werden, Software, die Schülerdaten direkt bei Microsoft US abliefert. (Ganten, zit. n. Knop 2020) Warum informiert sich niemand vorher, ob solche Tools überhaupt sinnvoll sind? „Microsoft Teams im Alltag: Perfektes Werkzeug, um Effizienz zu vernichten“ titelt die Golem, eine Nachrichtenplattform für IT-Profis am 23. März 2020 und konstatiert: Die Redaktion würde seit einigen Monaten mit MS Teams arbeiten. Im Alltag zeigten sich aber derart viele Probleme, dass es „eine Belohnung für alle geben müsste, die das Produkt verwenden.“ (golem, 23.2.2020)

Digitaltechnik als Brandbeschleuniger sozialer Spaltung

Wie zu erwarten wird auch das Argument der vermeintlichen Bildungsgerechtigkeit durch den Einsatz von Technik bemüht. Zwar hat die OECD-Studie zu Resilienz genau das Gegenteil gezeigt (OECD 2017). Der Einsatz von Digitaltechnik in Schulen schadet den Kindern und Jugendlichen aus bildungsfernen Schichten und verstärkt die soziale Spaltung. Was ihnen fehlt und hilft, sind klare Regeln und Strukturen, ein sozialer Schutzraum, Ansprechpartner und konkrete Hilfestellung beim Lernen. Aber laut Bär sind Digitaltechniken das adäquate Mittel, um die sozialen Unterschiede zwischen ultraengagierten Müttern, die „bisher ihr Social-Media-taugliches Abendessen auf Instagram gepostet haben, [und, rl] sich nun dafür feiern, die tollste Home-Schooling-Mutter zu sein“ (Frasch 2020) sowie Kassiererinnen oder Krankenschwestern auszugleichen, die arbeiten gehen und ihre Kinder nicht betreuen könnten. Deren Kinder dürfen nicht ins Hintertreffen geraten.

Abgesehen davon, dass sich diese „ultraengagierten“, aber vor allem selbstsüchtigen Mütter selten als Lehrerinnen eignen: Die meisten Kinder brauchen sowohl Hilfen bei der Strukturierung des Tages wie beim Lernen mit Medien. Besonders wichtig sind zuverlässige und qualifizierte Rückmeldungen. Kinder aus bildungsnahen Familien sind da in vielerlei Hinsicht im Vorteil. Sie werden von den Eltern betreut und unterstützt, weil Bildung zum Selbstverständnis gehört. Oft ist ein Elternteil zu Hause, es gibt i.d.R. genug Endgeräte, einen (mehr oder weniger ergonomischen) Bildschirmarbeitsplatz und Rückzugsräume. Ob das Lernen so gelingt, hängt aber ganz wesentlich davon ab, ob und wie die Eltern dieses Lernen zu Hause unterstützen und fördern: durch direkte Rückkopplungen bei Lernstoff und bei den (Haus)Aufgaben. Bei Kindern aus sozial schwachen und bildungsfernen Schichten fehlen oft nicht nur zum Lernen sinnvolle Endgerät wie PC oder Laptop (während Spielekonsole und Smartphone oft vorhanden sind), sondern auch Ruhe und Unterstützung. Es ist schon jetzt zu prognostizieren, dass die Corona-Krise die soziale Spaltung verschärft und die Defizite gerade bei schwächeren Schülerinnen und Schülern vertieft, einschließlich des erwartbaren Frustes, Aufgaben alleine nicht lösen zu können und sich dadurch selbst als Schulversager ins Abseits zu stellen.

Was tun?

Als erstes sollten man erkennen: Um Kinder und Jugendliche und ihre Lernprozesse geht es gar nicht in den Diskussionen über Medien- oder Digitaltechnik. Eine einfach Sprachanalyse zeigt, was bei den Kampagnen im Fokus steht: benannt werden Geräte und Dienste (Funk- oder Telekolleg, eLearning, Online und Mobile Learning, Computer oder Web Based Training (CBT, WBT), Laptop- oder Tabletklassen usw.) Auch beim Digitalpakt Schule sind 80% der Gelder für den Aufbau der digitalen Infra- und Netzstruktur vorgesehen. Maximal 20% bleiben für Endgeräte. Das mag einer der Gründe sein, warum bislang nur ein Bruchteil der Paktgelder abgerufen wurden. Die Zweckbindung geht an den Bedarfen der Schulen vorbei und bedient nur die Interessen der IT-Wirtschaft samt ihrer Berater.

Wer stattdessen die Schulen vor Ort stärken wollte, müsste an der Schule vor Ort fragen, was genau gebraucht wird. Man müsste Zuhören statt mit zweckgebundenen Mitteln falsche Anreize zu setzen. Man müsste im Idealfall bis auf die Ebene einzelner Schulen diversifizieren und eine Vielfalt an analogen und digitalen Medienkonzepten zulassen, bei denen Theaterrequisiten und Musikinstrumente genauso als Mittel zur Medienbildung verstanden würden wie Bildschirmmedien.

Man könnte sich auch als erstes darauf einigen, dass Bildungseinrichtungen keine Wirtschaftsunternehmen, Kinder keine „Kunden“, Lehrerinnen und Lehrer keine Dienstleister sind und die Kommerzialisierung von Schule und Unterricht zu genau so desaströsen Ergebnissen führt wie in den Public Schools in Amerika und anderswo. Man könnte die vielen Berater, StartUps und Verkäufer aus den Schulen schmeißen und sich darauf verständigen, dass kein Material von Lobbyisten eingesetzt wird, kostenlos oder nicht. Man könnte die Digitalpakt-Gelder umwidmen zu Schulfördermitteln, die über die fünf Jahre hinaus verstetigt würden und über die jede einzelne Schule nach eigenem Bedarf entscheiden kann. Man könnte sich darauf einigen, dass beim Einsatz von Rechnern und Software keinerlei Daten von Minderjährigen gespeichert und ausgewertet werden und keinerlei Persönlichkeits-, Lern- oder sonstige Profile erstellt werden. Man könnte …

Man könnte so viele sinnvolle Dinge tun, wenn nicht Betriebswirtschaftler, Informatiker und Psychologen der empirischen Bildungsforschung das Regime an Schulen übernommen und die Maximen des Total Quality Management (TQM) mit den für Schulen sinnfreien Kennzahlen und Rankings durchgedrückt hätten.

Man könnte den einzelnen Menschen und seine persönliche Entwicklung wieder in den Mittelpunkt stellen und Schule nicht nur als Zurichteanstalt für den Arbeitsmarkt und validierte Employability begreifen.
Man könnte, man müsste, man muss: Anfangen. Die Techniken und die Ideen für einen anderen Einsatz von IT sind da. Tim-Berners-Lee zeigt mit seinem Projekt SOLID am MIT (https://solid.mit.edu/) und seinem „Contract for the Web“ (https://contractfortheweb.org/) Alternativen auf. Die wichtigsten Parameter: Datensparsamkeit, De-Zentralisierung, Datenhoheit bei den Nutzern, transparente Algorithmen (Gigerenzer et.al. 2018) und Diversifizierung der IT-Systeme statt technischer Mono-Kulturen.

Dazu gehört als Basis, Nutzerdaten möglichst gar nicht erst zu sammeln. Wer das Buch „Zeitalter des Überwachungskapitalismus“ von Shoshana Zuboff kennt, weiß, dass die IT des 21. Jahrhunderts nicht die Technik sein wird, die wir derzeit nutzen – wenn wir eine freie und demokratische Gesellschaft bleiben wollen.

„Was bleibt vom Menschen“ fragte Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier auf dem 7. Deutschen Evangelischen Kirchentag am 20. Juni 2019 in Dortmund, „wenn neue Technologien immer tiefer in unsere Entscheidungen eingreifen, unser Denken lenken, unsere Wünsche formen? Und wie soll Gesellschaft funktionieren, wenn jede Faser von Individualität – längst nicht mehr nur jede Abweichung von der Norm – als Datenpunkt erfasst und in neuen Zusammenhängen verarbeitet wird – bei den einen vom Staat [China; rl], bei den anderen von privaten Datenriesen? [USA; rl]“ Nicht um die Digitalisierung der Demokratie müssten wir uns zuallererst kümmern, so Steinmeier, sondern um die Demokratisierung des Digitalen: „Die Rückgewinnung des politischen Raumes – gegen die Verrohung und Verkürzung der Sprache und der Debatten, aber auch gegen die ungeheure Machtkonzentration bei einer Handvoll von Datenriesen aus dem Silicon Valley –, ist die drängendste Aufgabe!“

Die Rückgewinnung des politischen Raumes bedeutet: Wir sind bereits in der Defensive. Ich frage mich, warum sich die deutschen Hochschulen nicht an die Spitze dieser notwendigen Entwicklung stellen, statt nur veraltete Konzepte aus dem Silicon Valley zu übernehmen?

Der Beitrag als PDF (9 S.): Digital first und Mobile only. Die Corona-Welle reiten. Beispiel Schule und Unterricht


Literatur und Quellen