Veröffentlicht am 01.11.24
Die bildungspolitische «Gegenreformation»
Die Schweizer Schulen haben einen Wirbelwind an Reformen hinter sich. Radikal wurden sie in den letzten Jahren umgebaut – alles mit dem Ziel, den Unterricht effizienter zu ‘machen’. Doch die Lernleistungen sinken. Klagen gibt’s schon lange. Nun kommt Kritik erneut auch von parteipolitischer Seite.
Von Carl Bossard.
«Volksschule am Anschlag» lautet der Befund der Schweizer «FDP. Die Liberalen». In einem Positionspapier fordert die Partei ein «Zurück zum Bildungsauftrag».(1) Sie will die Primarschule nicht länger über Gebühr mit frühen Fremdsprachen und Inklusion durch integrativen Unterricht strapazieren. Ein «Reduce to he max!», lautet die Maxime. Es ist eine Rückkehr zum Kern des Bildungsauftrags und damit zum Eigentlichen und Wesentlichen der Primarschule. Diese pädagogische Wende will Wirkkraft und Verbindlichkeit des Unterrichts verbessern. Die NZZ spricht von einer «Gegenreformation».(2) Und die FDP ist überzeugt: «So retten wir die Volksschule.»(3)
Reformen führen zu inhaltlicher Überfülle
Mit enormem Aufwand wurde die Primarschule während der vergangenen 25 Jahre umgebaut. Das Zauberwort hiess «Transformation». Das Schweizer Schulsystem kannte vor allem eines: die Addition. Die Wirtschaft verlangte Frühenglisch, die nationale (Kohäsions-)Politik drängte auf Mittelfrühfranzösisch, der Dachverband Economiesuisse forderte einen möglichst digitalisierten Unterricht. Postuliert wurde das individualisierte, autonome Lernen, eigenverantwortet und selbstorganisiert. Über den Lehrplan 21 mit seinen 363 Kompetenzen und den 2’300 Kompetenzstufen sollte der Unterricht evidenzbasiert erfolgen und von aussen steuerbar sein.(4)
Dazu kam die forcierte Integration von Kindern mit Lern- oder Verhaltensschwierigkeiten. Das Behindertengleichstellungsgesetz von 2004 führte zum Prinzip der integrativen und inklusiven Schule: Alle Kinder, auch solche mit besonderem Förderbedarf, sollten möglichst gemeinsam unterrichtet werden. Kleinklassen verschwanden, separate Sonderklassen gibt es kaum mehr.
Wenn die Zeit zum Üben fehlt
Vieles ist dazugekommen – weggenommen wurde wenig. Das hat Konsequenzen: Die Lehrpläne sind dichter geworden, die Lehrmittel dicker, die Klassen heterogener. Die Folgen sind spürbar: Die Unruhe in den Klassenzimmern nimmt zu, Druck und Hektik steigen, Verweilen und Vertiefen nehmen ab. Viele Dinge werden nur noch kurz gestreift. Inhalte lösen einander schnell ab. Sie prägen sich nicht tief ein, werden kaum Erfahrung und bleiben Bruchstück. Der Raum zum Vertiefen ist eng. So wird Unfertiges zum Dauerzustand.
Für einen lernwirksamen Unterricht aber sind Üben, Festigen und Anwenden unabdingbar. Das gilt – so antiquiert es klingt – besonders für die Grundfertigkeiten Rechnen, verstehendes Lesen und korrektes, kohärentes Schreiben: Je mehr wir etwas im täglichen Leben und unter Druck brauchen, desto intensiver müssen wir es trainieren, sagt die Forschung. Genau dazu fehlt vielfach die Zeit.
Der Unterricht verkommt zur Nebensache
Alles wäre wichtig, nur das «Kerngeschäft» Unterricht käme zu kurz. So die Aussage vieler Lehrpersonen. Warum? Die Koordinationen unter den vielen Fachlehrpersonen einer Klasse kosten Zeit, ebenso die zahlreichen Kontrollen und Elterninformationen. Da dominieren Absprachen in Jahrgangsteams und Fachgruppen, da erhalten Evaluation und Dokumentation Priorität, da gefährdet «ein Berg von unterrichtsferner Administration» den Grundauftrag, berichten Klassenlehrerinnen. Zutage tritt das schale Gefühl: Für den Unterricht bleibt den Lehrern immer weniger Zeit; er verkommt nicht selten zur Nebensache.
Der Kern des Unterrichts
Darum häufen sich die Klagen. Die Lern- und Bildungswirksamkeit nehme ab, die Effizienz der Lernprozesse schwinde, heisst es. Darauf verweisen Eltern und Lehrmeister, Berufsbildnerinnen und Universitätsprofessoren. Auch die rasante Zunahme privater Lerninstitute ist ein Alarmzeichen. Das bildungspolitische Grundsatzpapier der FDP nimmt dieses Unbehagen auf und artikuliert es in 17 Handlungsfeldern. Das Manifest will die curriculare Überfülle und die Sprachlastigkeit der heutigen Primarschule minimieren, die gesteigerte Heterogenität über die forcierte Integration reduzieren, die Bürokratie beschneiden und den Unterricht auf den Kern des schulischen Auftrags konzentrieren.
Schule ist vor allem Unterricht
Auf scharfen Widerstand stösst das Bildungspapier der FDP beim SP-Politiker Matthias Aebischer. Inklusion sei ein Menschenrecht, behauptet der Berner Nationalrat. Er spricht von einem «Schuss ins Blaue in Unkenntnis der Materie», seine Parteikollegin, die Solothurner Ständerätin Franziska Roth, gar von einem Rückfall ins letzte Jahrhundert.(5) Anders sieht das beispielsweise die GLP-Vizepräsidentin Katja Christ: «Wir dürfen unsere Kinder nicht als Versuchskaninchen missbrauchen.» Ihre Partei, die Grünliberalen GLP, stimmt – wie die Schweizerische Volkspartei SVP – in vielen Kritikpunkten mit der FDP überein.
Die bürgerlichen Parteien wollen in der Tendenz die Schule entlasten und sie auf den eigentlichen Kernauftrag zurückführen, dies im Wissen um die illusionslose Tatsache: Schule ist vor allem Unterricht. Und alles, was die Schule leisten soll, muss durch das Nadelöhr des Unterrichts hindurch – und durch die Interaktion zwischen Lehrerin, Lehrer und der Schulkasse. Die Bildungspolitik darf diese Institution darum nicht überlasten und sie nicht ständig verändern.(6)
Das pädagogische Dreieck ist ein fragiles Konstrukt
Das Geschehen im Sozialverband Klasse, das Handeln im Binnenraum des Dreiecks «Lehrperson – Unterrichtsinhalt als Kulturgut – Schülerinnen und Schüler», das ist der Kernbereich der Schule. Hier geschieht das Entscheidende; hier entsteht die Qualität des Unterrichts.
Diese Triade ist ein fragiles und störungsanfälliges Konstrukt. Konstanz und Kontinuität geben ihm Halt und ermöglichen die Lernprozesse. Emotional tragende Beziehungen zwischen den Lehrpersonen und ihren Kindern bilden das Fundament für eine hohe Lernqualität.
Weniges, gut unterrichtet, ist meist mehr
Wer dieses Dreieck mit Inhalten und Ansprüchen überlastet, bringt die Lehrpersonen an ihre Grenzen – und auch viele Schülerinnen und Schüler. Er gefährdet die Lernprozesse. Genau das geschieht zurzeit; die Schule hat zu viele Aufgaben übernommen. Sie ist in Atemnot geraten. Das FDP-Positionspapier will den Kernbereich stärken, indem es den Unterricht entlastet. Im gefüllten und oft überkomplexen Alltag der Schule geschieht vieles, weniges aber wirkt. Das zeigt die empirische Unterrichtsforschung. Dieses Wenige, gut unterrichtet, ist für die Lernprozesse meist mehr.
Literatur und Quellen
1) https://www.fdp.ch/positionen/bildung-forschung-innovation/bildung [abgerufen: 26.10.2024]
2) David Biner, Die Gegenreformation, in: NZZ, 12.10.2024, S. 13.
3) https://www.fdp.ch/aktuell/medienmitteilungen/medienmitteilung-detail/news/so-retten-wir-die-volksschule [abgerufen: 26.10.2024]
4) Eine neue Studie zeigt: Die Schulreformen der vergangenen Jahrzehnte haben kaum den erhofften Erfolg gebracht. Sie konnten die Bildungsleistung nicht verbessern. Die vielen Steuerungselemente erwiesen sich als unwirksam: Richard Münch, Oliver Wieczorek (2025), Effektive Schulsteuerung? Bilanz einer globalen Reformagenda. Weinheim, Basel: Beltz Juventa, S. 245ff.
5) René Donzé, Jetzt geht der Kampf um die Schule erst recht los, in: NZZaS, 23.06.2024, S. 1; ders. et al., Bitte nachsitzen, in: NZZaS, 13.10.2024, S. 12.
6) Gegen das permanente Verändern spricht sich vor allem der deutsche Bildungshistoriker Heinz-Elmar Tenorth aus, vgl.: Jürgen Kaube, Wehret den Idealen, in: FAZ, 12.10.2024, S. 12.
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