Veröffentlicht am 15.08.11

„Ich beginne zu glauben, dass die Linke recht hat“

„Ein Jahrzehnt enthemmter Finanzmarktökonomie entpuppt sich als das erfolgreichste Resozialisierungsprogramm linker Gesellschaftskritik. So abgewirtschaftet sie schien, sie ist nicht nur wieder da, sie wird auch gebraucht. Die Krise der sogenannten bürgerlichen Politik, einer Politik, die das Wort Bürgertum so gekidnappt hat wie einst der Kommunismus den Proletarier, entwickelt sich zur Selbstbewusstseinskrise des politischen Konservatismus. Realpolitik und Pragmatismus verdecken die gähnende Leere, und die Entschuldigung, Fehler machten ja auch die anderen, ist das Pfeifen im Walde. Aber es geht heute nicht allein um falsches oder richtiges politisches Handeln. Es geht darum, dass die Praxis dieser Politik wie in einem Echtzeitexperiment nicht nur belegt, dass die gegenwärtige „bürgerliche“ Politik falsch ist, sondern, viel erstaunlicher, dass die Annahmen ihrer größten Gegner richtig sind.“ (Quelle: Frank Schirrmacher, FAZ 14.Aug.2011)

Kommentar MP:

Einen solchen Artikel habe ich lange nicht mehr, wenn überhaupt je, in der FAZ gelesen. Frank Schirrmacher beschreibt hier wie die konservativen Mittelschichten und ihre Stimmen in den Medien, wie die des erzkonservativen Thatcher Biographen Charles Moore allmählichen in einem dramatischen Akt der „Selbstdesillusionierung“ erkennen, daß sie den Propagandisten des Neoliberalismus auf den Leim gegangen sind und nun als Steuerzahler von den Raubrittern in den Banken und auf den Finanzmärkten der Welt schamlos ausgenommen werden. Die Volksvertreter in der Politik, die diesen Schlamassel durch ihre Deregulierungs- und Privatisierungsmaßnahmen, also durch die Schwächung des demokratischen Staates angerichtet haben, stehen daneben und schauen der Enteignung schweigend und tatenlos zu. Einige von ihnen wissen wahrscheinlich nicht einmal, was da zur Zeit überhaupt abläuft und können deshalb auch nicht korrigierend eingreifen, andere wollen es nicht, weil sie selbst zu den Profiteuren der Entwicklung gehören. Für die Bildungspolitik, in der der gleiche neoliberale Geist wütet, gilt ähnliches. Auch hier sind die regierenden Politiker nicht in der Lage korrigierend einzugreifen. „Frau Schavan ist“, wie Schirrmacher formuliert, „inexistent“. Die Privatisierung und Ökonomisierung der Bildung läuft ungebrochen weiter. Man kann von Schirrmacher halten, was man will, in diesem Artikel erweist er sich als Zeitdiagnostiker von seismographischer Präzision. Wenn man überhaupt etwas an seinen Ausführungen monieren will, dann ist es die Konzentration seiner Kritik auf die schwarz-gelbe, die sogenannte „bürgerliche“ Regierung. Aber nicht erst diese, sondern vorher schon die große Koalition und die rot-grüne Regierung unter Schröder haben durch die Zulassung von Hedgefonds, die Senkung der Körperschaftssteuer und die Steuerbefreiung von Veräußerungsgewinnen den Karren in den Dreck gefahren. Wirklich lesenswert.