Veröffentlicht am 08.02.24

«Neue Autorität» an der Schule! – Wie bitte?

Zuerst verpönt man sie, die pädagogische Autorität, und dann kehrt sie ins Schulzimmer zurück, versehen mit dem Attribut des «Neuen». Durch die Hintertüre und über ein privates Institut. Gedanken zur Schweizer Slalomfahrt eines elementaren Begriffs.

Von Carl Bossard

«Neu» muss es sein. Fast alles, was etwas auf sich hält, wird als «neu» erklärt. Das bringt Beifall und Akzeptanz. Das «Neue» gilt vielen schon als das Bessere und dem «Alten» Überlegene. Das versteht sich; niemand will als altbacken gelten. Die Pädagogik ist dafür besonders anfällig und mit ihr die Bildungspolitik – aus Sorge, nicht mehr zeitgemäss zu sein. Vergessen gehen die anthropologischen Konstanten, ignoriert wird das, was immer gilt – weil wir Menschen sind. Die menschliche Evolution ist eben nicht mit der technischen Innovation gleichzusetzen. Doch das geschieht. Und wo nicht mehr nachgedacht wird, da wird vorgedacht – mit neuen Begriffen und Slogans: «Neues Lernen» beispielsweise oder «Neue Lernkultur». Nun ist die Autorität an der Reihe, die «Neue Autorität», wie sie aktuell heisst.

Wenn die Schulqualität erodiert
«Allahu Akbar», so riefen Jugendliche der Primarschule Bern Bethlehem und umzingelten dabei eine Lehrerin. Der Vorfall von Mitte Dezember 2023 erregte Aufsehen. Die Stadtberner Schule will ihn mit dem Ansatz der sogenannten «Neuen Autorität» aufarbeiten.(1) Die Idee in der Schweiz bekannt gemacht hat das ‘Systemische Institut für Neue Autorität’ (sina) in Zürich. Das Konzept boomt.(2) Die Schulen buchen Kurse. Verdient wird gutes Geld.

Die Not ist gross, Burnout selbst bei Kindergärtnerinnen kein Einzelfall. Vielerorts ist das Schulsystem an der Grenze der Belastbarkeit angelangt, sagen Insider. Gar von «Erosion der Schulqualität» ist die Rede und vom «Tohuwabohu» in gewissen Klassenzimmern, wie «Der Beobachter» vor einiger Zeit gemahnt hat.(3) Die «Neue Autorität» soll nun Regeln und damit Ruhe in die Schule bringen und «entgegenkommende Verhältnisse» schaffen, wie es der deutsche Soziologe Jürgen Habermas fordert. Fürs Gelingen eines guten Unterrichts unabdingbar, aber in vielen Schweizer Schulklassen nicht mehr gegeben. Die Idee der «Neuen Autorität» geht auf den israelischen Psychologen Heim Omer zurück.(4) Sie entstammt nicht dem Unterrichtsalltag; sie kommt aus der Familientherapie. Das Konzept beruht auf einer unmissverständlichen Sprache und hoher Präsenz von Eltern oder Lehrpersonen sowie dem Abstecken verbindlicher Regeln.

Abgrenzung gegenüber einer Autorität, die es nicht mehr gibt
Was ist nun so neu an der «Neuen Autorität»? Die empirische Unterrichtsforschung, die Hirnbiologie, die Resonanzpädagogik fordern das alles, und zwar unmissverständlich. Dazu finden sich die Prinzipien der «Neuen Autorität» längst in der aussagekräftigen Studie von Jacob S. Kounin zum Classroom-Management formuliert.(5) Neu ist an der «Neuen Autorität» wenig, mindestens für die Schule – trotz des verheissungsvollen neuen Namens. Interessanter ist vielmehr die Abgrenzung. An die Stelle einer Autorität durch Macht trete eine neue Autorität durch Beziehungsarbeit, sagt Sebastian Teuscher, Schulleiter der Primarschule Bern Bethlehem. Und dezidiert fügt er bei: «Die klassische Autorität hat ausgedient.»

Damit grenzt er sich gegenüber einer Autorität und «autoritären Personen» ab, wie sie der Philosoph Theodor W. Adorno um 1950 analysiert hat und Siegfried Lenz sie in seiner «Deutschstunde» schildert. Das war Autorität als Position; sie setzte auf rigorose formale Hierarchie – und verletzte viele junge Menschen. «Der Schüler Gerber» von Friedrich Torberg hat sie erlebt und ist daran tragisch gescheitert. Frank Wedekind karikiert sie in seinem gesellschaftskritisch-satirischen Drama «Frühlings Erwachen» – mit dem Untertitel «Eine Kindertragödie». Warum also solche Zerrbilder konstruieren, wenn sie doch überwunden sind? (6)

Auf die Manege des Klassenzimmers ungenügend vorbereitet
Autorität ist ein schwieriger Begriff, ein «Anwärter auf die die Rolle des Generalbösewichts», wie es der Philosoph Hans Blumenberg ausdrückt. Autorität hat man nicht einfach, sie wird einem zugesprochen – oder eben nicht. Personale Autorität ist ein Beziehungsverhältnis, eine Art Vertrauen – und unerlässlich in der Manege des Klassenzimmers und im härter gewordenen pädagogischen Alltag. Gefordert ist Führungs- und Widerstandkraft. Darauf sind manche Junglehrer nur ungenügend vorbereitet und vor allem nicht eingeübt. Das zeigt die hohe Ausstiegsquote von jungen Lehrpersonen. Das zeigt der verzweifelte Ruf nach „neuer“ Autorität.

Erklärbar ist das nur, weil die personale Autorität – sie galt lange und vielerorts als selbstverständlich – zur Seite geschoben wurde. Die aktuelle Ausbildung an den Pädagogischen Hochschulen hin zur Individualisierung vernachlässigt das konsequente Führen einer Klasse. Angehende Lehrer würden heute nicht mehr primär Klassen führen, heisst es; es werde individualisiert. Die Lehrperson sei Coach, und in der Funktion als «Partnerin» oder «Berater» begleite sie die Lernenden. Der gemeinsame Unterricht sei tendenziell out, die Klassenführung darum sekundär geworden. Ohnehin habe das historisch kontaminierte Wort «führen» einen schalen Beigeschmack.

Kinder suchen einen Häuptling
Solche Tendenzen verkennen die Realität. Die pädagogische Leadership-Aufgabe muss gezielt geschult werden. Der Neurobiologe Joachim Bauer drückt es so aus: «Kinder und Jugendliche wollen beides: Verständnis und Führung.» Das seien unerlässliche Tragpfeiler eines respektvollen und effizienten Unterrichts. Anders formuliert: Kinder wollen einen fairen Häuptling; sie wünschen sich eine empathische Dirigentin.

Das Bejahen der Leadership im Schulzimmer hängt zusammen mit einem positiven Bezug zur pädagogischen Autorität. Ein Schüler erlaubt sich eben mehr, wenn eine Lehrperson über wenig Autorität verfügt. Respekt, wie ihn die «Neue Autorität» einfordert, ist an personale Autorität gebunden. Er wird zugeschrieben und braucht ein vitales Vis-à-Vis: eine Lehrperson mit positiver Autorität, die schülerzentriert steuert und mit einem verbindlichen Commitment das Verhalten in der Klasse regelt.

Teachers are leaders of learning and learners
Die empirische Bildungsforschung zeigt es: Zentral sind die Lehrpersonen und ihr Unterricht – und ihre spürbare Beziehung zu den Kindern. Da gibt es weder Anbiederung noch Laissez-faire oder fraternisierende Nähe. Das wissen begabte Pädagogen. Sie führen straff-locker und strahlen dabei eine natürliche, vielleicht sogar charmante Autorität aus. Sie kennen auch den Mut zum Nein. Solchen Autoritäten gegenüber empfindet man Respekt. Er bildet sich durch Zuschreibung personaler und sozial-humaner Werte. Eine Respektperson überzieht man kaum mit lärmigen Übergriffen à la Bern Bethlehem.

Wer mit achtsamer Autorität zu führen gelernt hat, wird in der Dynamik einer pulsierenden Klasse bestehen. Das ist im heutigen Gedränge des Unterrichtszimmers zwar keine Garantie gegen renitentes Schülerverhalten, aber eine wichtige Prävention – im Wissen: Kinder suchen einen «Leader». In der amerikanischen Pädagogischen Psychologie heisst es pragmatisch: «Teachers are leaders of learning and learners.» Lehrer führen das Lernen und die Lernenden. Wer dieses elementare Handwerkszeug in der Grundbildung gelernt hat, braucht keine «Neue Autorität».


Quellen und Literatur

1) Nina Fargahi, An den Schulen boomt die «Neue Autorität», in: Tages-Anzeiger 16.01.2024, S. 4.
2) Susanne Balli, «Neue Autorität»: Ein Konzept macht Schule, in: CH Media, 29.01.2024, S. 19.
3) Julia Hofer, Tohuwabohu im Klassenzimmer, in: Beobachter 25/2021, S. 92.
4) Haim Omer/Arist von Schlippe (2010), Autorität durch Beziehung. Die Praxis des gewaltlosen Widerstands in der Erziehung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Dazu: Haim Omer/Philip Streit (2016), Neue Autorität: Das Geheimnis starker Eltern. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
5) Jacob S. Kounin (2006), Techniken der Klassenführung. Standardwerke aus Psychologie und Pädagogik. Reprints von Jacob S. Kounin, hrsg. von D. H. Rost (2006). Waxmann: Münster/München/Berlin.
6) Vgl. Roland Reichenbach (2011), Pädagogische Autorität. Macht und Vertrauen in der Erziehung. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer.