Veröffentlicht am 25.04.22

Flucht aus dem Schulzimmer

Die Personalnot ist spürbar: Lehrerinnen reduzieren ihr Pensum, Lehrer steigen aus, Klassenverantwortliche zu finden wird schwieriger. Die Zürcher Lehrerverbände schlagen Alarm. Doch die Bildungsdirektion wiegelt ab. Ein Zwischenruf.

Von Carl Bossard

Die Aufgabenfülle von Lehrerinnen und Lehrern wird grösser, der Berufsauftrag anspruchsvoller. Der administrative Aufwand steigt. Die verstärkte Integration ganz unterschiedlicher Kinder in die gleiche Klasse führt zu zusätzlichen Störungen. Der Beobachter spricht gar vom «Towubahohu im Klassenzimmer» und davon, dass es heute selten mehr eine Klasse gäbe, «in der man sich auf die Vermittlung des Schulstoffs konzentrieren kann». (1) Konsequenz aus dem Wegfall der Kleinklassen? Das erschwert das Unterrichten und erhöht den Zeitbedarf für jedes einzelne Kind. Die vielen Koordinationsabsprachen mit der Heilpädagogin und dem Schulpsychologen, der Lehrerin für Integrierte Förderung IF und dem Schulsozialarbeiter sind aufwendig und rauben Energie. Die Arbeitszeit reicht vielfach nicht aus. Viele fliehen darum in Teilpensen. Ein Fakt mit Folgen.

«Lehrer sollen mehr arbeiten»
Von den Zürcher Lehrerinnen und Lehrern arbeiten 80 Prozent in einem Teilzeitpensum; im Durchschnitt beträgt ihr Arbeitsumfang 69 Prozent eines regulären Pensums. «Lehrer sollen mehr arbeiten», fordert darum die Zürcher Bildungsdirektion. (2) Sie will damit den akuten Lehrermangel bekämpfen. Doch nach den Gründen der reduzierten Pensen fragt kaum jemand. Vielfach begnügt man sich mit ein paar kruden Klischees: Frauen- und Teilzeitberuf, Lehrerlarmoyanz und ähnliche Stereotype. Doch solche Vorurteile verdrängen die realen Ursachen.

Ziel: mehr Schule – weniger Formulare
Bereits 1999 hat die Studie von Hermann J. Forneck, ehemaligem Direktor der Pädagogischen Hochschule Nordwestschweiz, die strukturell bedingten Überzeiten von Lehrpersonen der Volksschule bestätigt: zu wenig Zeit für den Kernauftrag des Unterrichtens, zu viel Aufwand für zusätzliche Aufgaben, oft auch Nebensächliches. Die Kennziffern beziehen sich zwar auf den Kanton Zürich, dürften aber kantonsübergreifend relevant sein. Ein klar definierter «neuer Berufsauftrag» soll Abhilfe schaffen mit dem Ziel: mehr Schule – weniger Formulare. Er quantifiziert die gesetzlich verankerten Aufgaben und basiert auf einer Jahresarbeitszeit – dies in Analogie zu den kantonalen Angestellten. 2017 trat er in Kraft.

Der Berufsauftrag sollte Lehrerinnen und Lehrer vor Überlastung schützen. Doch das Problem blieb. Krux ist die knappe Zeit fürs pädagogisch Eigentliche und Wesentliche: die Arbeit im Schulzimmer mit den Kindern und Jugendlichen. Pro Schulstunde sind fürs Vorbereiten und Nachbereiten lediglich 30 Minuten eingeplant. Dazu gehören auch die Korrekturen. Wer selber unterrichtet und allen didaktischen Postulaten genügen will, der weiss: Das ist zu wenig. Ungenügend bemessen sind auch andere Aufgaben: Eine Klassenlehrerin beispielsweise erhält für ihre vielen Elterngespräche, die Zeugnisse, die Abklärungen pro Kind, die Absprachen im Team und die gesamte Verantwortung für ihre Klasse einen Zusatzaufwand von 100 Stunden zugesprochen. Auch hier korrigiert die Berufserfahrung: Das reicht nicht.

Noch nie so viele offene Stellen
Vor Kurzem veröffentlichte die Züricher Bildungsdirektion einen eigenen Evaluationsbericht. Die hohe Überzeit der Volksschullehrerinnen und -lehrer sei problematisch, lautet der Befund. Er bestätigt, mindestens in Teilen, die Zahlen der Basis.(3) Die kantonale Bildungsdirektion will das Problem angehen. Doch das brauche Zeit. Dabei drängt die Zeit; der Lehrermangel drückt. Im Kanton Zürich werden im Moment rund 800 Inserate für Dauerstellen und 200 für Stellenvertretungen publiziert – so viele wie noch nie zuvor. Gleichzeitig aber stellt die Bildungsdirektion einen Zusammenhang zwischen der Arbeitsbelastung und der angespannten Personalsituation kategorisch in Abrede. Das erinnert an eine Politik, deren Akteure nichts sehen, nichts hören, nichts sagen wollen.

Bildung als Frage der Systemsteuerung?
Die Problematik der Überlastung liegt allerdings nicht einfach im Arithmetischen und in einigen Aufgabenprozenten. Das Problem liegt in der Reformkaskade der vergangenen Jahre. Bildung ist für die Verwaltungsstäbe, so mindestens macht es den Anschein, primär eine Frage der Systemsteuerung oder der Governance, wie es heute im Fachjargon und mit unscharfen Begriffen heisst. Alles ist demzufolge planbar und machbar, alles ist berechenbar und steuerbar. Darum erfolgten in rascher Folge stets neue Top-down-Reformen. Das Ganze erinnert an eine Aussage des Systemtheoretikers Niklas Luhmann: «Beobachtet man das jeweils reformierte System, hat man den Eindruck, dass das Hauptresultat von Reformen die Erzeugung des Bedarfs für weitere Reformen ist.» (4)

Es dominieren die Kriterien der Effizienz
Wer in die Schullandschaft blickt und die vielen Reformen der vergangenen Jahre betrachtet, der erkennt schnell, was radikal anders geworden ist: Den Schulen wird nicht mehr vorgegeben, was sie inhaltlich zu unterrichten haben. Heute wird detailliert dekretiert und genau geregelt, was die Schülerinnen und Schüler am Ende können müssen – und teilweise auch verordnet, wie das zu erreichen sei, also der méthodos, der Weg. Über den Lehrplan 21 werden (Einzel-)Kompetenzen festgelegt, und zwar ausserordentlich kleinparzelliert. Im Fach Musik beispielsweise wird von einem Kind gefordert: «Kann seinen Körper sensomotorisch wahrnehmen und musikbezogen reagieren.»

Das bedeutet einen Paradigmenwechsel, könnte man in Analogie zu einem in der Wissenschaft berühmt gewordenen Begriff sagen. Die staatliche Strategie stellt von der «Input-» auf die «Output-Steuerung» um. Der Fokus verschiebt sich radikal. So soll die Effizienz schulischer Bildungsarbeit erhöht und der Unterricht am operationalisierten Output gemessen werden. Im Fokus stehen das Kind und sein Output – unter den Kriterien der Messbarkeit. Doch ein solches System wird für viele zum Problem.

Als Marionette im Hamsterrad gefangen
Aus der subjektiven Sicht eines Betroffenen sieht das so aus: «Dieses System engt mich ein», klagt ein Junglehrer. Er unterrichte gerne, aber er hetze und stresse vorschriftsgetreu von Kapitel zu Kapitel, von Inhalt zu Inhalt, von Thema zu Thema, schreibt er und fügt bei: «Vom Grossen und vom Ganzen bin ich weit entfernt: ein unzusammenhängendes Sammelsurium, ohne innere Kohärenz, ohne Zeit zum Vertiefen und Üben, ohne Chance zum Erlebnis und zum Musischen. Und dauernd muss ich beurteilen und meine Kinder in Kompetenzraster zwängen.

Die vielen Vorgaben schnüren mich ein. Ich bin im Hamsterrad gefangen – und fühle mich als Marionette der Bildungsbürokratie. Meine pädagogische Arbeit besteht doch nicht im emsigen Katalogisieren von Einzel-Kompetenzen. Meine Kinder will ich nicht in messbare Einzeltüchtigkeiten zerlegen, in diese isolierten Skills. Das widerstrebt mir. Und die jungen Menschen auf den engen Kompetenzbegriff zu reduzieren, dazu bin ich nicht Lehrer geworden.»

Das Problem leugnen und so lösen?
Er wird weiterstudieren und geht der Schule vermutlich verloren. Wie so viele. Eine Einzelstimme zwar, das sei zugegeben – und doch kein Einzelfall. «Der Schule laufen die Lehrer davon», warnte die NZZ am Sonntag schon vor Jahren.(5) In der Zwischenzeit ist das Zeitungspapier zwar vergilbt, doch das Problem bleibt. Man kommt den fatalen Eindruck nicht los: Für gewisse Bildungsfunktionäre liegt die Lösung des Problems in der Leugnung des Problems. Leidtragende sind die Schulkinder.


Quellen

1) Julia Hofer, Tohuwabohu im Klassenzimmer, in: Beobachter 25/2021, S. 92f.
2) René Donzé, Zürcher Lehrer sollen mehr arbeiten, in: NZZaS, 23.05.2021, S. 12.
3) Nils Pfändler, Lehrerverbände beklagen Überlastung, in: NZZ, 08.04.2022, S. 12.; dazu Medienmitteilung der Zürcher Lehrerverbände, 25.03.2022.
4) Niklas Luhmann (2002), Das Erziehungssystem der Gesellschaft. Hrsg. von Dieter Lenzen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 166.
5) Katharina Bracher, Den Schulen laufen die Lehrer davon, in: NZZaS, 06.04.2014, S. 1.