Veröffentlicht am 14.11.15

Digitalisierung als De-Humanisierung

Gegen die Ökonomisierung des Bildungswesens, GBW-Tagung 14.11.2015 Ffm

Der Generalnenner der letzten zwei Dekaden ist das Vordringen der Digitaltechniken in nahezu alle Lebensbereiche. Ob Arbeitswelt oder Schule und Hochschule, ob Kommunikations- oder Konsumverhalten: Ohne Rechner, Software und Netz scheint heute nichts mehr zu gehen. Laptops, Smartphones und Social Media sind markante Wegmarken auf diesem Weg zur „digitalen Gesellschaft“. Der jederzeit und überall mögliche Netzzugang durch mobile Geräte ist das (Status)Symbol digitalaffiner Gesellschaften, auch in Bildungseinrichtungen. Schulen ans Netz oder Tabletklassen heißen dazu die Schlagworte.

Wer allerdings Web & Co. für Unterhaltungs- und Kommunikationsmedien, wer Smartphones, Apps und Social Media-Plattformen im Kontext von Schule und Weiterbildung für zeitgemäße Lehr- und Lernmittel hält, greift zu kurz. Das immer engere Netz der digitalen Infrastruktur hat als wesentliche Komponente einen permanenten Rückkanal. Alles, was der Einzelne im Netz tut, wird in Datenbanken gespeichert, mit Hilfe von komplexen Algorithmen ausgewertet und zu immer genaueren, personalisierten Profilen destilliert. Menschen sind nurmehr Datenlieferanten für die Mustererkennung und Profilierung durch Big Data. Digitalisierung ist das Synonym für die vollständige Überwachung und Kontrolle aller. Das Freiheitsversprechen des Web erweist sich somit als illusionär. Statt Individualität und Selbstbestimmung herrschen Gruppenzwang und Sozialkontrolle. Der erzwungene Verzicht auf Privatsphäre und Datenprostitution, um z.B. Teil einer Community wie Facebook oder LinkedIn zu werden bzw. zu bleiben, sind Beispiele. Wer an der Kommunikation der Sozialgemeinschaft (Schule, Hochschule, Verein) partizipieren will, wird ins Netz gezwungen.

Gesundheit und Bildung sind die beiden Systeme, die aktuell ganz oben auf der Agenda der Digitalisten stehen und mittels technischer Infrastruktur, Software und Netzwerken kontrolliert und gesteuert werden sollen. Selftracking oder Quantified Self heißt der Trend zum Sammeln körperbezogener Daten wie Puls, Körpertemperatur oder Schlafphasen. Online- oder Mobile Learning heißt das gleiche für digitale Lehrmedien. Das Prinzip ist identisch. Es werden möglichst viele Daten über den Einzelnen gesammelt und daraus dann passende Angebote (oder Warnungen) berechnet. In Folge bestimmen Algorithmen, ob und welche Behandlungen ein Patient bekommt oder welches Lernmodul einem Lernling als nächstes auf dem Display oder Touchscreen eingespielt wird. Es sind zugleich die beiden Systeme, die extrem empfindlich auf effizienz- und profitmaximierende Ökonomisierung reagieren, da sowohl ärztliche Beratung und Behandlung wie Lehr- und Lernprozesse auf gegenseitigem Vertrauen, Achtung, wechselseitigem Respekt und Empathie beruhen. Wer nurmehr quantifiziert und algorithmisch regelt, nimmt diesen Systemen alles Humane.

Daher dieser Appell:

1. Ein Appell gegen den Wahn der Digitalisierung im Bildungsbereich. Digitalisten und ihre Adlaten trommeln für ein Revival des Skinnerschen Behaviorismus und des programmierten Lernens, das wir aus den 1950er-Jahren in den USA kennen und das in den 1960er Jahren auch in Deutschland populär war. Das mag technisch möglich sein, finanziell effektiv und für die Investoren gewinnbringend, wenn man Menschen wie Versuchstiere an Lernapparate setzt und dort für sich und von Maschinen gesteuert arbeiten lässt. Es war aber schon damals bereits vom Ansatz her grundfalsch, korrespondiert mehr mit Konditionierung und Drill als mit Lernen. Es ist dem Wesen nach und im dahinter stehenden Menschenbild inhuman. Der Behaviorismus wird weder durch Wiederholung noch durch die Digitalisierung von Lehrmedien besser.

2. Ein Appell für die Besinnung auf Schulen und Hochschulen als Orte der Humanitas, des Von- und Miteinanderlernens und des demokratischen Diskurses. Statt Ökonomisierung und Digitalisierung des Bildungswesens brauchen wir eine Humanisierung und Re-Individualisierung in humanistischer Tradition. Nicht Technik und Kontrolle führen zu Wissen und Können, sondern der Dialog zwischen Lehrenden und Lernenden. Zur Lehr- und Lehrerpersönlichkeit auf der einen gehört die Schülerpersönlichkeit auf der anderen Seite. Es ist im Kern die sokratische Akademie.

3. Ein Appell gegen die Vermessung und automatisierte Steuerung des Menschen. Kybernetiker, Behavioristen und heute die Valley-Digitalisten und ihre Digital-Adventisten setzen Technik zur Kontrolle, Steuerung und Manipulation von Menschen ein. Sie kümmern sich dabei weder um die Folgen der medialen Isolierung am Bildschirm noch um Datenschutz  – Stichworte sind informationelles Selbstbestimmungsrecht, Persönlichkeitsrechte,Privatsphäre. Das müssen wir juristisch aufbrechen: die Urteile zum Recht auf Vergessen bei Google, zur Dateneinsicht bei Facebook oder die Aufhebung des Safe Harbour-Beschlusss weisen die Richtung. Das müssen wir aber auch pädagogisch aufbrechen, indem  Medientechnik und Medien wieder auf ihre Funktion als Hilfsmittel reduziert und ausschließlich nach pädagogischen Notwendigkeiten eingesetzt werden.

Der ganze Vortrag (15 Seiten mit Quellen) als PDF: Lankau: Digitalisierung als De-Humanisierung