Veröffentlicht am 12.05.20

Das Schulzimmer – Resonanzraum oder Digitalareal?

Ein Beitrag von Prof. Dr. Carl Bossard

Homeoffice heisst die neue Betriebsform, auch in den Schulen. Unterricht erhält einen digitalen Schub. Die Euphorie ist gross; vergessen geht, dass Bildung auch Beziehungsgeschehen ist. Zeit für eine pädagogische Reflexion.

Die Non-Stopp-Gesellschaft ist unerwartet ins Stottern und Stocken gekommen, in vielem gar zum Stillstand. Auch der Präsenzunterricht steht still. Angesagt sind sogenannte „Corona-Ferien“. Die rund 1.3 Millionen Schulkinder in der ganzen Schweiz sollen aber weiterhin für die Schule lernen, oder sogar fast wie in der Schule, ohne aber in die Schulstube zu kommen. Sie arbeiten zu Hause, betreut und begleitet von ihren Lehrerinnen und Lehrern – über digitale Kanäle mit Informationstexten, Arbeitsaufgaben oder Push-Nachrichten, über ganze Websites oder Apps, beim Videocall, mal über postalisch versandte Unterlagen, mal per gutes altes Telefon oder gar mit Einzelgesprächen im Schulhaus.

 

Lernen erfordert positive Beziehungen

Der flächendeckende Fernunterricht ist ein unerforschtes Gelände. Erfahrungen gibt es wenig. Entsprechend unterschiedlich funktioniert er – vielerorts optimal, da mal besser, dort mal weniger gut, hier und da vielleicht gar nicht. „Beim Fernunterricht überzeugten nicht alle Lehrer“, titelte darum die Sonntagszeitung in grossen Lettern.[1] Nicht ohne Unterton.

Damit hätte man längst ernstmachen sollen, lauten nun die Vorwürfe an die Schule. Die digitale Entwicklung sei schlicht verschlafen worden, heisst es; das räche sich jetzt. Schrill schallt darum das Schlagwort nach intensivierter, ja radikaler Digitalisierung des Unterrichts durchs Land. Doch diesem reflexhaften Ruf nach der digitalen Schule ist eine pädagogische Reflexion entgegenzusetzen. Es gibt einen triftigen Grund, warum die Kinder nicht längst mit irgendeiner Lernsoftware alleine gelassen werden: Weil wir, verkürzt gesagt, Menschen sind,[2] weil Lernen positive Beziehungen erfordert. Schule und Unterricht sind in vielem ein Resonanzprozess, ein Beziehungsgeschehen zwischen Menschen.[3] Bildung entfaltet sich „in dichten Interaktionsprozessen (mit Menschen und Dingen)“,[4] analysiert der Soziologe Hartmut Rosa.

 

Der Mensch ist kein Robinson Crusoe

Es zählt darum zu den anthropologischen Grundkonstanten, dass der Mensch ein Gegenüber braucht, um sich selbst zu erkennen. Martin Buber, Pädagoge und Religionsphilosoph, hat diese Einsicht zu einer Kernaussage verdichtet: „Der Mensch wird am Du zum Ich.“[5] Darum darf dieses Gegenüber nicht fehlen; auch das beste Digitalprogramm kann das menschliche Vis-à-Vis nicht ersetzen. Das zeigt sich auch in diesen Corona-Tagen mit dem Fernunterricht. Unzählige Kinder vermissen das Zusammensein mit den Klassenkameraden und ihrer Lehrperson; umgekehrt suchen viele Pädagogen den direkten und persönlichen Kontakt zu ihren Schülerinnen und Schülern.

Der Mensch ist eben keine Kaspar-Hauser-Figur, und nur ganz wenige taugen zum modernen Robinson Crusoe. Auf sich allein gestellt, verlieren sie sich in einer Welt ohne Halt und Orientierung. Menschen brauchen ein Du, um sich entwickeln zu können.

 

Wesentliches liegt im Zwischenmenschlichen

Viele Forschungen zeigen es, viele Expertisen bestätigen es: Von frühester Kindheit an gibt es zwei Bedürfnisse in uns Menschen; die beiden Grundanliegen ergänzen sich gegenseitig: Einerseits wollen wir uns sicher und geborgen fühlen, anderseits wollen wir Neues entdecken und erfahren. Für dieses Gefühl des Geborgenseins wie fürs Entdecken von Neuem aber braucht es Mitmenschen, denen wir vertrauen, die uns positiv verstärken und uns auch korrigieren. Das erleichtert und verstärkt das Lernen.

Diese resonanten Zuwendungen sind elementar – gerade bei jüngeren Kindern. Lehrkräfte müssen an die Heranwachsenden glauben, ihnen Beachtung schenken, sie ermutigen, sie anerkennen und ihnen vertrauen. Auch fördernde und korrektive Feedbacks spielen eine entscheidende Rolle; wer lernt, muss wissen, was oder wie man etwas besser machen könnte. Das alles sind Beziehungselemente. Sie liegen im Zwischenmenschlichen, im „Dazwischen“, im Divergenten. Physische Präsenz und vitales Interesse am Kind intensivieren diese zwischenmenschlichen Prozesse.

 

Lernen ist kein Start-Ziel-Lauf

Die Digitalisierung aber geht davon aus, dass der Unterricht ein kontrollierbarer und damit planbarer Prozess sei – sozusagen ein linearer und konvergenter Start-Ziel-Lauf, präzis berechenbar und von Algorithmen gesteuert. Das Divergente kommt kaum vor. Darum bringen Kinder wenig Ausdauer auf, über längere Zeit einem digitalisierten Unterricht zu folgen. Sie langweilen sich bald einmal, weil keine Person wahrnehmbar ist und keine zwischenmenschliche Energie animiert. Es ist dieses „Dazwischen“, das den jungen Menschen die unentbehrlichen analogen Resonanzerfahrungen vermittelt, betont der Arzt und Neurowissenschaftler Joachim Bauer.[6]

Im Unterricht muss darum eine Lehrperson spürbar sein und vital präsent. Sie ist mehr als ein „guide at the side“.[7] Sie muss da sein fürs Feedback, für einen humorvollen Witz, für Anerkennung und Anregung, für Widerstand und Widerrede. Schülerinnen und Schüler brauchen die verstehende Zuwendung ihrer Lehrerin; sie müssen sich vom Lehrer wahr- und ernstgenommen fühlen.

 

Der persönliche Kontakt ist unentbehrlich

Was bedeutet das für die jetzige Situation? Für die Notlage mit dem Fernunterricht, wenn die Kinder allein zu Hause lernen müssen? Es zeigt sich, wie wichtig der direkte menschliche Kontakt ist – und was mit der Präsenz der Lehrerinnen und Lehrern beim gemeinsamen Lernen im Klassenzimmer nun plötzlich fehlt. Viele Eltern versuchen das auszugleichen. Das gelingt nicht überall. Nicht alle Kinder haben die gleichen Chancen eines lernfreundlichen Elternhauses.

 

Baldige Rückkehr in den Resonanzraum des Schulzimmers

Die Notlage zeigt noch etwas: Pädagogik vor Technik müsste selbstverständlich sein. Das vergessen viele unkritische Digitalisierer und Promotoren einer virtuellen Lernwelt. Der Einsatz digitaler Medien ist für die Schülerinnen und Schüler meist unproblematisch. Was sie für ein gutes Lernen aber brauchen, ist ein engagiertes persönliches Gegenüber. Lernen braucht positive Beziehungen. Darum sind digitale Medien – vor allem in der Primarschule – ein Zusatz des Unterrichts von Person zu Person, betont der Psychologe und Psychotherapeut Allan Guggenbühl. Denn die menschliche Evolution ist nicht gleichzusetzen mit der technischen Revolution. Auch im Digitalzeitalter wird der Mensch am Menschen zum Menschen. Bald kehren die Primarschulkinder und ihre Lehrerinnen und Lehrer wieder in den Resonanzraum des Schulzimmers zurück. Das ist aus vielerlei Gründen begrüssenswert.

 

Der Beitrag als PDF: Bossard_Schulzimmer – Resonanzraum oder Digitalareal

 

[1] Nadja Pastega, Beim Fernunterricht überzeugten nicht alle Lehrer, in: Sonntagszeitung, 12.04.2020, S. 8.

[2] Fridtjof Küchemann, Warum es so schwierig ist, ohne Lehrer zu lernen, in: FAZ, 20.03.2020.

[3] Jens Beljan (2019), Schule als Resonanzraum und Entfremdungszone. Eine neue Perspektive auf Bildung: Weinheim: Juventus Verlag, S. 375.

[4] Hartmut Rosa (2016), Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin: Suhrkamp, S. 403.

[5] Vgl. Martin Buber (1997), Ich und Du. 13. Aufl. Gerlingen: Verlag Lambert Schneider.

[6] Joachim Bauer (2019), Wie wir werden, wer wir sind. Die Entstehung des menschlichen Selbst durch Resonanz. München: Karl Blessing Verlag, S. 205.

[7] Ewald Terhart (2018), Eine neo-existenzialistische Konzeption von Unterricht und Lehrerhandeln? Zu Gert Biestas Wiederentdeckung und Rehabilitation des Lehrens und des Lehrers, in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik, 94 (2018) 3, S. 479.