Veröffentlicht am 11.11.14

Widersinnig, unnötig, unkritisch: Die ‚konstruktivistische Wende’ in der Pädagogik

Gastbeitrag von Ludwig A. Pongratz

Pädagogische Reformprozesse haben gewöhnlich eine Eigendynamik, die nicht nur die Reformpraxis, sondern auch ihre theoretischen Grundbegriffe betrifft. Die theoretischen Orientierungen, die dazu beitragen, eine veränderte Praxis zu etablieren, werden im Verlaufe von Reformprozessen popularisiert, häufig auch psychologisiert und banalisiert. Man kann das an der lebensphilosophischen Grundlegung der ‚alten’ Reformpädagogik (zu Beginn des 20. Jahrhunderts) genauso ablesen wie am Begriffsgebrauch der Reformer der 60er und 70er Jahre. Diese reklamierten ihr ‚Interesse an Emanzipation’ und scherten sich am Ende wenig darum, woher der Begriff des ‚emanzipatorischen Erkenntnisinteresses’ stammte und was ihn begründete.

Nicht anders ergeht es dem begrifflichen Inventar, das aktuelle Reformansätze für sich in Anspruch nehmen. Es sind vor allem systemische und konstruktivistische Referenztheorien, die den Rahmen der derzeit laufenden Reformen abstecken. Doch holt Begriffe wie ‚selbstreferentielle Geschlossenheit’, ‚Autopoiesis’ oder ‚Beobachtung’ offensichtlich das gleiche Schicksal ein, das bereits den Leitkategorien der  Vorgängerreform widerfuhr: Die Begriffe werden – losgelöst von ihrem theoretischen Kontext – zu Allerweltsfloskeln, bis sie am Ende synonym werden mit reformadäquaten Haltungen. Flagrant wird dieser Vorgang etwa am Gebrauch des Begriffs ‚konstruktivistisch’ in Fends ausladender Monografie „Schule gestalten“ (Wiesbaden 2008) „Lehrpersonen mit konstruktivistischen Haltungen“, heißt es da, schaffen „häufiger Lerngelegenheiten, die auf größeres begriffliches Verständnis ausgerichtet (sind)“ (ebd., S. 296). Die simple Gegenüberstellung von „Lehrpersonen mit konstruktivistischer oder traditioneller Didaktik“ (ebd., S. 296) lässt für Pädagogen, die etwas auf sich halten, eigentlich nur einen Schluss zu: sich eine ‚konstruktivistische Haltung’ anzueignen. Die Rückfrage, was denn unter dem Begriff ‚konstruktivistisch’ zu verstehen sei, welche ‚theoretischen Hypotheken’ er gewissermaßen mitschleppt, unterbleibt nicht nur – sie ist geradezu unschicklich. Wer sich als Kritiker des Konstruktivismus outet, muss damit rechnen, als traditionell oder renitent abgeschrieben zu werden. Protagonisten der konstruktivistisch-systemtheoretischen Wende, etwa Rolf Arnold, legen diesen Schluss durchaus nahe. Gerade deshalb eignet sich Arnold als bevorzugter Bezugspunkt, um die Kritik der ‚konstruktivistischen Wende’ in der Pädagogik zu entfalten. In seinen Schriften geht es vor allem um drei Problembereiche: „die Ebene der Erkenntnistheorie, die Ebene der Normativität und die Ebene der Intervention“ (Arnold/ Gomez Tutor 2007, S. 108). Beginnen wir mit der ‚Ebene der Erkenntnistheorie’, mit Fragen also, die Praktikern oftmals weit hergeholt scheinen, die für die Konzeption von Praxis aber dennoch folgenreich sein können:

Widersinnig: erkenntnistheoretische Fallstricke

Arnold kommt in seinen Publikationen immer wieder auf einen theoretischen Paradigmenwechsel zu sprechen – den Übergang vom „cartesianischen Denken“ (Arnold 2007, S. 80) zum Konstruktivismus –, der schließlich den pädagogischen Wechsel von der Instruktions- oder auch ‚Erzeugungsdidaktik’ zur ‚Ermöglichungsdidaktik’ notwendig und möglich mache. So, wie Arnold diese Positionen gegeneinander setzt, sind die Rollen klar verteilt: Charakteristisch für die Erkenntnistheorie alten Schlags sei ein (letztlich illusionärer) Verfügungswillen über die zu erkennenden Objekte – gerade so, wie die ‚Instruktionsdidaktik’ der falschen Vorstellung anhänge, im Rahmen von Lehrveranstaltungen könne ein Lehrender über die Lernenden verfügen. So gesehen erscheint es erhellend und befreiend zugleich, wenn radikale Konstruktivisten die Auffassung vertreten, es gebe keinen erkenntnismäßigen Zugang zur Wirklichkeit. Diese Auffassung findet ihren unmittelbaren pädagogischen Niederschlag in der These, Lerner seien zwar ‚lernfähig, aber unbelehrbar’. Die Unbelehrbarkeit erscheint dabei als notwendiges Resultat der ‚selbstreferentiellen Geschlossenheit’ des ‚lernenden Systems’, dem ein Zugang zu seiner Umwelt verwehrt sei.

Der ganze Beitrag als PDF: Pongratz Konstruktivismus