Veröffentlicht am 04.03.17

Universität als Kompetenztrainingsanstalt

Gastbeitrag von Prof. Dr. Hans-Jürgen Bandelt und PD Dr. Axel Bernd Kunze

Die Universitäten haben in den letzten anderthalb Dekaden einen radikalen Umbau, euphemistisch Modernisierungsschub genannt, zum „Reformhaus“ erfahren. „Die Vision einer Universität, in der Exzellenz, Innovation und Spitzenforschung als Garantien für wirtschaftlichen Erfolg die vorherrschenden Leitmotive sind, konfligiert im Alltag mit einer Fülle von ungelösten Problemen wie Vermassung, Unterfinanzierung und Bürokratisierung, die sich im Wissenschaftsbetrieb verfestigt, und seit Bologna deutlich verschärft haben“ (Ode). Als mutmaßliche akademische Bildungsanstalt zehrt die Universität noch vom Geiste Humboldts. Die endgültige Totsagung des Humboldtschen Bildungsideal wird getoppt durch seine infame Umdeutung in jener gelben Fibel „Bildung statt Bologna“ (Lenzen), in der Hochschullehrer ermutigt werden, mit ihrer Lehre problem- und frageorientiert zu agieren, „statt in den Köpfen der Studierenden die Struktur und die Last jahrhundertealter Fächer abbilden zu wollen“.

Lastfreie neue Fächer und innere Dispositionen braucht es, da „die Human Sciences nunmehr auch als akademische Ideologielieferanten obsolet geworden sind“ (Frodermann). Schlüsselqualifikationen sollen stattdessen sicherstellen, dass die Studenten die erwünschten inneren Einstellungen fest implementieren, die ihnen sonst mit alter Fachlichkeit nicht in den Sinn kämen. Da ist es nur konsequent, dass die KMK und die Hochschulrektorenkonferenz ganz auf die Kompetenzausrichtung der Bachelorstudiengänge setzen. Diese Entwicklung war schon vorgezeichnet, denn die nötigen Strukturen und Akteure stehen längst bereit und warten auf ihren Einsatz.

Streitunlust statt öffentlicher Einmischung

Für Derrida müßte die Universität „der Ort sein, an dem nichts außer der Frage steht“. Sie ist der Ort wo das Recht herrschen sollte, „öffentlich auszusprechen, was immer es im Namen der Wahrheit zu sagen gilt“. Für die Universität konstitutiv wäre demnach die Suche nach Wahrheit durch beständige Infragestellung aller Gewissheiten und fremden Herrschaftsansprüche. Und auch nur die Universität könnte dieser gesellschaftliche Ort sein, an dem eine derart interessenfreie Suche nach Wahrheit gelingen könnte.
Ein Professor – unser Sprachgebrauch erinnert noch daran – wird „berufen“. Er soll für ein Wissen eintreten, dessen Geltung überprüft wurde. Auf diese Weise entsteht ein Wissen, von dem sich Vertreter akademischer Profession nicht mehr so ohne Weiteres distanzieren können und das zur öffentlichen Einmischung herausfordert. Die politischen Krisen der Gegenwart zeigen, wie wenig die Zukunft vorhersagbar und im voraus beherrschbar ist. Umso wichtiger wäre ein Wissen, das nicht aus der Anpassung an herrschende Trends und aktuelle Moden erwächst, das sich nicht reinen Nützlichkeitsansprüchen der Gegenwart verdankt, sondern gegen fremde Interessen im Streit um die Wahrheit errungen wurde.

Und heute? Die Idee der Universität lebt davon, dass die in ihr Tätigen das, was sie hervorbringen, auch als diskursiv bedeutsam einstufen. Dort aber, wo es um Bedeutsames geht, wird auch gestritten. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung ist der Kampfplatz, auf dem um das bessere Argument gerungen wird. Wissenschaftliche Streitfragen sind nicht einfach beliebige Geschmacksurteile. Heute fällt wissenschaftlicher Widerspruch schnell als Polemik auf. Eine abnehmende „Negationslust“ und Indifferenz breitet sich im akademischen „Reformhaus“ aus und der wissenschaftliche Disput wird durch zunehmende „Spezialisierung“ und „Paradigmatisierung“ (Kaube) erstickt. Was sich in der Forschung zeigt, kehrt in der Lehre unter anderen Vorzeichen wieder. „Widerständigkeit als Bildungsziel“ (Fuchs) gilt da nicht als erstrebenswert.

Verlust des Akademischen

Ein Studium befähigte traditionell grundsätzlich für eine breite berufliche Praxis. Nun wird stillschweigend vorausgesetzt, dass den Studiengängen konkrete Berufsrollen entsprechen. Und die Erwartungen der Studenten folgen zunehmend dem, was politisch suggeriert wird. Die Tarifparteien des Öffentlichen Dienstes der Länder haben in einer Protokollerklärung zur Entgeltordnung des geltenden Tarifvertrages von 2006 ausdrücklich festgehalten, dass der Bachelor nicht als wissenschaftlicher Hochschulabschluss einzustufen sei. Die Professorenschaft scheint bis heute nicht bemerkt zu haben, welches Ei ihnen die eigenen Dienstherren hier ins Nest gelegt haben. Der Universität ist damit zumindest partiell der Auftrag zur nichtwissenschaftlichen Ausbildung übertragen worden. Selten hat sich eine Institution ihr spezifisches Selbstverständnis derart widerstandslos aus der Hand schlagen lassen. In der Folge verschwimmen die Grenzen zwischen Berufs- und Hochschule zusehends. Der Kopenhagenprozess geht davon aus, dass ein bestimmtes Fähigkeitsniveau grundsätzlich auf zwei verschiedenen Wegen methodisch erreichbar sei: akademisch oder berufsbildend. Der grundlegende Unterschied zwischen beiden Wissensformen, einmal hermeneutisch-reflexiv, das andere Mal handlungsorientiert, wird politisch ignoriert.

Das Proprium eines Studiums wird nicht mehr im selbsttätigen Erschließen von Theorien, im selbständigen Umgang mit Quellen und Texten oder in der eigenständigen Beurteilung komplexer, antinomistischer und multikausaler Prozesse gesehen. Die Unterschiede zwischen Ausbildung und Studium werden zunehmend vom beruflichen Habitus her begründet, der sich durch Biographie, berufliche Sozialisation, Ausbildung, formale Funktion und Teamposition bildet, in dem sich allenfalls noch ein gradueller Unterschied, nicht aber mehr ein prinzipieller zwischen beiden Formen der Bildung und Wirklichkeitsaneignung ausdrückt.

Hätten wir aber nur noch Studenten, die sich bloß funktionales Wissen aneignen und das auch noch möglichst zügig, dann wären wir schnell bei einer Gesellschaft angelangt, die nur noch zu kopieren, Plagiate herzustellen oder allenfalls Bestehendes zu verbessern, aber nicht mehr Alternativen zu antizipieren und wirklich Neues hervorzubringen in der Lage wäre. Im Zuge einer solchen Entwicklung würde sich weder der allgemeine Bildungsstand erhöhen noch könnte sich unser Land auf Dauer den gewünschten Wettbewerbsvorsprung im internationalen Vergleich und den damit verbundenen Wohlstand sichern.  Universitäten in Hamburg und München gehen schon unbeirrt den Irrweg einer fachlich entkernten, sinnentleerten „schönen neuen Universitätswelt“.

Kompetenztraining

Die Akkreditierungsgesellschaft ACQUIN hat im Jahre 2013 den noch gebührenfreien, weiterbildenden Studiengang „Master of Higher Education“ an der Universität Hamburg reakkreditiert, der nunmehr universitätsintern beworben wird. Mit ihm soll Planungskompetenz, Leitungskompetenz, Methodenkompetenz, Medienkompetenz und Lehrkompetenz mittels vorgeschriebener Pflichtlektüre einschlägiger Werke modular trainiert werden. Den erfolgreich trainierten Absolventen wird versprochen, dass sie dann imstande sind, entsprechend in ihren Tätigkeitsfeldern in Studium und Lehre kompetent und professionell handeln zu können, also ihr Wissen Kompetenzrastern unterzuordnen. Es scheint, dass Nitschkes zwei Gattungen, Anstalten der Bildung und Anstalten der Lebensnot, im 21. Jahrhundert durch eine dritte, Anstalten des Kompetenztrainings, zu ergänzen sind. Von der ersten sprach Nitschke, von der dritten schwadronieren die postmodernen Didaktiker und andere Propheten der Kompetenzgesellschaft.
Zu solchen Trainingsanstalten sollen die Universitäten werden, was sie im Kern schon sind. In ihnen ist die Rhizommetapher von Deleuze und Guattari ins Gegenteil verkehrt: nicht die Befreiung von definierten Machtstrukturen, sondern die Ankettung vieler Perspektiven und vieler Ansätze an die undefinierten, scheinbar nicht mehr greifbaren Machtstrukturen der neuen globalen Kontrollgesellschaft. Wie die „Epiphanie des Lehrers“ verschwindet (Schirlbauer), so schwindet in den Anstalten der dritten Gattung mählich die des Gelehrten, der die Lernenden mit der Sache konfrontiert und sie an dem Erkenntnisvorgang teilhaben läßt, zur eigenen Urteilsbildung anregt und an Grenzen stoßen läßt mit „Denken als die zunehmende Erschließung des Seienden auf seine Verborgenheit, die zunimmt, je mehr sie behoben wird“ (Ballauff). Stattdessen soll sich seine Lehrrolle als Trainer von normierten Kompetenzen beschränken, die in sperrigen Modulhandbücher gelistet und von gequälter Prosa begleitet sind, die gleichsam einem tibetischen Mantra 108 Mal murmeln läßt „die Studentinnen und Studenten können …“, bis es alle schließlich glauben.

Auch muss die Lehre des Professors „professionalisiert“ werden, d. h. fest eingebunden werden in das neue Kontrollsystem. Die TUM München hat bereits ein“Kompetenzmodell Hochschullehre“ (Link s.u.) entwickelt und in einer 43-seitigen Broschüre vorgestellt, die die von keinem Lehrenden gestellte Frage beantwortet: „Welche Kompetenzen benötigen Lehrende an der Technischen Universität München?“ Und fürs Testen gibt es drei Niveaustufen und eine Checkliste zum Erstellen einer eigenen Profillinie: Ja, wir schaffen das …

Wozu noch überhaupt Professoren in der Bachelorausbildung? Nun, sie sollen es sein, die ihr eigenes Entmächtigungsgesetz in Selbstverwaltung unterzeichnen. Sie sind im Übergang nur noch denkbar als Akquisitionsmanager von Forschungsgeldern, als Modulprosaisten, als Bereitsteller von MOOCs, als Koordinatoren virtueller Tutoren und schließlich als Selekteure für die künftig hochselektiven Masterstudiengänge. Aber eigentlich sind das, im Verbund mit einschlägiger Software, langfristig alles Aufgaben für einen Master für Higher Education mit fachbezogenen Bachelortitel – Promotion in empirischer Bildungsforschung erwünscht. Modern Educayshun in alten Universitätsgemäuern. Das Reformhaus wird zum Tollhaus.

Der Beitrag als PDF: Kompetenztrainingsanstalt (Bandelt&Kunze)

PDF: „Kompetenzmodell Hochschullehre


Hans-Jürgen Bandelt ist Professor für Mathematik an der Universität Hamburg,
Axel Bernd Kunze ist Privatdozent für Erziehungswissenschaft an der Universität Bonn und stv. Schulleiter an der Evgl. Fachschule für Sozialpädagogik Weinstadt. 7.6.2017, Leverkusen