Veröffentlicht am 26.11.16

Digitalpakt mit befremdlichem Gepäck?

Lernsoftware soll Daten von Schülern und Lehrkräften ausspionieren

Seit 20 Jahren wird an Schulen und Hochschulen mit Hilfe von digitalen Medien erfolgreich gelehrt und gelernt. Dies geschieht jedoch ohne verlässliche finanzielle oder technische Unterstützung durch die chronisch unterfinanzierten kommunalen Träger. Während der Überschuss an Steuereinnahmen an die Bundesministerien fließt, können Schulträger nicht einmal für saubere Schultoiletten sorgen, geschweige denn die technischen Voraussetzungen für die verlässliche Nutzung von digitalen Medien gewährleisten. Besonders berufliche Schulen, die in hohem Maße auf die digitale Vermittlung von Anwenderprogrammen angewiesen sind, leiden unter der fehlenden Ausstattung. Jetzt hat sich die Regierungspartei entschlossen, 5 Mrd. Euro Bundesmittel durch einen Digitalpakt (Digitalpakt#D) den Ländern für die Digitalisierung der Schulen im Falle der Wiederwahl in Aussicht zu stellen.

Doch die hochwillkommene Finanzspritze für Ausstattung von WLAN, Endgeräten und Software ist an eine befremdliche Bedingung geknüpft: So sollen sich die Länder auf ein pädagogisches Medienkonzept mit technischen Standards und Schnittstellen einigen, das für alle Schulen verpflichtend ist. Die Forderung einer bundesweiten Nutzungsverpflichtung ist ungewöhnlich, da dies im Widerspruch zum Bildungsföderalismus steht, der den Bundesländern die Eigenverantwortung für das Schulwesen zuschreibt. Wann und an welcher Stelle Medien zum Einsatz kommen, ist letztendlich eine Frage der Didaktik. Laut Schulgesetz liegt die Verantwortung daher sinnvoller Weise individuell bei der Lehrkraft. Das hat nichts mit Beliebigkeit zu tun, sondern richtet sich an den Bedürfnissen der Schüler aus.

Das Berufsbildungsministerium BMBF erklärt hierzu: „Wir werden die Entwicklung von miteinander kompatiblen (interoperablen) Angeboten zum Lernen mit digitalen Medien und einheitlichen Schnittstellen für die Nutzung in verschiedenen technischen Systemen vorantreiben. Je mehr Bildungsinstitutionen einheitliche Schnittstellen nutzen, desto größer sind die Skaleneffekte und umso eher werden private Anbieter bereit sein, in solche Angebote zu investieren.“…

Sollten etwa die Nutznießer der angestrebten Nutzungsverpflichtung nicht die Schüler, sondern ausschließlich private Anbieter von Lernsoftware und Hardware sein, denen das Trojanische Pferd einer bundesweiten Nutzungsverpflichtung Zugang zu bundesweiten lehr- und lernbezogenen Daten (learning analytics) von Schülern und Lehrkräften verschafft?
Dazu das Bundesbildungsministerium: „Die Erhebung und statistische Auswertung lehr- und lernbezogener Daten (learning analytics) vermitteln neue Erkenntnisse über Lehr- und Lernprozesse. Smart-Data-Technologien ermöglichen die Verarbeitung großer Datenmengen und können zur Verbesserung der Lehrqualität beitragen. Zugleich gilt es, den mit learning analytics verbundenen Risiken bezüglich der Datensicherheit und des Datenschutzes angemessen zu begegnen.“ (aus: Bildungsoffensive für die Digitale Wissensgesellschaft, BMBF, Oktober 2016, S. 21).
Zudem wird deutlich über die Datenerhebung und Nutzbarmachung des Schülerlernverhaltens zur Attraktivitätssteigerung von digitalen Lehrmitteln privater Bildungsanbieter auf dem internationalen Markt gesprochen: „Deutsche Bildungsanbieter sollen zugleich die Entwicklung zielgruppenspezifischer und qualitätsgesicherter Bildungsangebote nutzen, um sich mit diesen stärker auf dem bisher vor allem angloamerikanisch dominierten internationalen Bildungsmarkt zu positionieren.“… Und weiter: „Das BMBF unterstützt im Rahmen der internationalen Berufsbildungskooperation u. a. private Bildungsanbieter dabei, sich mit attraktiven Angeboten auf dem globalen Bildungsmarkt zu positionieren. Die Integration digitaler Lernelemente soll die Wettbewerbsfähigkeit dieser Angebote weiter erhöhen.“ (alle Zitate aus: Bildungsoffensive für die Digitale Wissensgesellschaft, BMBF, Oktober 2016, S. 21, S. 27, S.29).

Private Anbieter hätten demnach ein großes Interesse, das Kundenverhalten während der Benutzung ihrer Lernsoftware zu sammeln und zu analysieren sowie die Daten der Schüler und Lehrkräfte auszuspionieren. Ein Sammeln großer Datenmengen im Bildungsbereich, das sogenannte Big Data Mining, verspricht Wettbewerbsvorteile und Profit, denn es soll den Erfolg der Lernsoftware und den Wissenszugewinn der Schüler sichtbar machen. Die Entwicklung ‚intelligenter‘ Lernsoftware würde, so das Versprechen der Anbieter, Schülerverhalten passgenau evaluieren können, um z.B. Aufgaben dem Entwicklungsstand der Schüler anzupassen. Der Schüler als Selbstlerner benötigt dann keine teuren Lehrkräfte mehr – Noten vergibt das System.

Leider hat der Ansatz, Bildung mit dem Hauptziel der Rendite anzubieten, einen entscheidenden Nachteil: Nicht der Mensch steht im Mittelpunkt der Bemühungen, sondern der Profit. Muss beispielsweise der Lernzuwachs messbar sein, um ein Lernsoftwareprodukt als besonders erfolgreich am Markt zu etablieren, werden alle nicht messbaren Bildungsanteile wie die Kritikfähigkeit oder Entwicklung eigener Ideen, dem untergeordnet und zweitrangig behandelt.
Als Grund für der Erhebung, Verarbeitung und Bereitstellung lehr- und lernbezogener Daten betonen Befürworter des Big Data Mining deshalb gebetsmühlenartig die Verwendbarkeit für bessere individuelle Förderung von Schülern. So schreibt die Bertelsmann Stiftung: „Beim Lernen im Internet entstehen große Datenmengen („Big Data“), auf deren Grundlage Lernwege systematisch ausgewertet und dann genutzt werden, um sie zu optimieren. Das Lernen kann damit entweder durch den Nutzer gesteuert werden oder das System versucht,  den Lernprozess auf der Grundlage der Analyse des laufenden Lernverhaltens zu regulieren. Alle Ansätze, die Computerprogramme für individuelle Förderung nutzen wollen, basieren auf diesen beiden Prinzipien.‘ (Aus: Individuelle Förderung mit digitalen Medien, Richard Heinen, Michael Kerres im Auftrag der Bertelsmann Stiftung, 2015). Auch Ministerin Wanka erklärte unlängst in Berlin, ihr ‚guter Freund Dr. Jörg Draeger von der Bertelsmann-Stiftung‘ hätte sie davon überzeugt, dass für den erfolgreichen Einsatz von digitalen Lernprogrammen im Bereich der individuellen Förderung wesentlich mehr lehr- und lernbezogene Daten erhoben werden müssen.

Doch spätestens seit der Hattie-Studie wissen wir, individuelle Förderung hängt nicht vom Medium ab, sondern von den positiv auf Schüler einwirkenden und in genügender Anzahl vorhandenen Lehrkräften. Die berühmte Fanfare am Ende einer erreichten digitalen Aufgabe langweilt Schüler innerhalb kürzester Zeit und ist nicht geeignet einen lernunwilligen Schüler zu motivieren. Dagegen ist es durchaus möglich als Lehrkraft einen mutlosen Schüler durch Gespräche und Ermunterung zu echter Lernbegeisterung zu führen.
Während anwenderbezogene Programme, beispielsweise Tabellenkalkulation oder Technische Zeichnungsprogramme, hervorragend digital vermittelt werden können, ist der Einsatz von digitalen Lehrmitteln als reiner Selbstzweck fraglich. Viele Schüler rühren die lange schon den Schulbüchern beiliegenden CDs gar nicht erst an. Eltern dient der zusätzliche Erwerb von Lernsoftware oft eher als Gewissensberuhigung. Gerne lernen wollen Schüler deshalb nicht öfter! Der kleine CD-Friedhof spricht am Ende einer Schullaufbahn von einfallslosen Belohnungssmileys, ewig sich wiederholenden Computer-Möwengekreische und  niedlichen Animiermäusen. Da hilft es auch nicht, dass Ministerin Löhrmann aus NRW prophetisch anlässlich der Preisverleihung digita 2016 verkündete: ‚Meine Damen und Herren, die Zukunft des Schulbuchs ist digital!‘.

Analoge Schulbücher können – und das erweist sich vielleicht als größter Vorteil – das Schülerverhalten nicht ausspionieren. Die Analyse des Lernverhaltens könnte nämlich auch schiefgehen: Alle Datenerhebungsinstitute, die das US-Wählerverhalten bei der Wahl Donald Trumps auswerteten, lagen komplett daneben, prognostizierten sie doch einen Sieg Clintons. Auf die Frage, was denn schiefgegangen wäre, kam die Antwort, die Befragten hätten wohl gelogen. Das ehrt den Homo Mendacius, den Lügenden Menschen, denn so entzieht er sich der Manipulation! Auch Schüler haben den Bogen schnell raus: Wenn sie keine Lust zum Lernen haben, machen sie einfach ständig die gleichen Fehler und bekommen vom ‚intelligenten‘ Lernprogramm zuverlässig zu einfache Aufgaben. Der Lehrer hätte es wohl gemerkt!

Letztendlich genießt der Datenschutz an Schulen und Hochschulen zu Recht einen hohen Stellenwert. Immerhin handelt es sich hier um besonders schützenswerte Bereiche, denn die persönlichen Daten, z.B. das Lernverhalten eines Schülers oder die Benutzung des Internets durch einen Lehrer im Unterricht, gehen niemanden etwas an – auch nicht den Staat. Es bleibt abzuwarten, ob und wie die sensiblen personenbezogenen Daten, die bei der Benutzung von Lernsoftware z.B. als Protokolldaten entstehen, zu den Herstellern gelangen sollen. Unter bestehendem deutschem und europäischem Datenschutzrecht ist das Big Data Mining im Sinne einer Vorratsdatenspeicherung der learning analytics im staatlichen Bildungssektor jedenfalls ausgeschlossen!

Zurzeit werden Programme entwickelt, die geschützte Lernsoftware-Internetzugänge versprechen. LOGINEO wird beispielsweise in NRW – leider datenschutzrechtlich bedenklich – erprobt. Bei genauer Betrachtung genügen diese Zugänge bestehendem Datenschutzrecht noch nicht. Auch kann die Unabhängigkeit von privaten Anbietern nicht umfassend gewährleistet werden. In herstellerunabhängige und datenschutzrechtlich tragfähige Soft– und Hardware Lösungen muss demnach noch viel Detailarbeit gesteckt werden.
Medien und Software im Bildungsbereich sinnvoll einzusetzen bedeutet auch, den Menschen wieder in die Mitte des Bildungsbegriffs zu rücken und Entwicklungen von unten wachsen zu lassen. Dazu benötigen Schulen und Hochschulen in Zukunft genügend kommunale Finanzmittel vor Ort, die keine deutschlandweite Warteschleife ziehen und aus Berlin mit der Digitalisierungs-Gießkanne ausgeschüttet werden.

Monika Reusmann StR hat sich als Hauptpersonalrätin Berufskolleg im Ministerium für Schule und Weiterbildung MSW NRW von 2012-2016 eingehend mit schulischem Datenschutz befasst.

Der Beitrag als PDF: M. Reusman: Learning Analytics