Veröffentlicht am 29.04.18

Digitale Bewertungsraster als Form der Entmündigung

Gedanken zur Dequalifizierung des Lehrers

Gastbeitrag von Nils B. Schulz

Die Sprachpolitik der neuen Lernkultur

Viktor Klemperers Notizen zur Rhetorik der NS-Regimes und vor allem George Orwells Dystopie-Roman „1984“ haben moderne Leser für das Thema „Sprachpolitik“ sensibilisiert – also dafür, wie das Denken und Handeln von Menschen durch Sprachregelungen gesteuert wird. So notierte der Romanist Klemperer in den vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts: „Sprache dichtet und denkt nicht nur für mich, sie lenkt auch mein Gefühl, sie steuert mein ganzes seelisches Wesen, je selbstverständlicher, je unbewusster ich mich ihr überlasse.“

Klemperer interessierte der Zusammenhang von Sprache und Macht, das heißt: die Durchsetzung von Ideologien durch eine manipulative Sprachpolitik. Orwell nannte das Etablieren einer Ideologie mittels neuer Vokabulare Newspeak. Dieser Begriff trifft Klemperers Untersuchungen zur „LTI“ (Lingua Tertii Imperii) sehr gut. Einmal auf den Zusammenhang zwischen Sprache und Macht aufmerksam geworden, führte er seine Studien auch nach Kriegsende in der Sowjetischen Besatzungszone und in der DDR fort. Er begann nun die Aufzeichnungen zur „LQI“ (Lingua Quarti Imperii). Gegenwärtig würde er sicher Notizen zu einer „Lingua Quinti Imperii“ machen: zum neoliberalen Kontrollregime, zum „Empire“, wie Toni Negri und Michael Hardt es nennen. Was den neuen Begriffsbaukasten des neoliberalen Dispositivs anbetrifft, liegt mit dem „Glossar der Gegenwart“, das eine Gruppe von Sozialwissenschaftlern um den Leipziger Soziologen Ulrich Bröckling herausgegeben hat, seit einigen Jahren ein Buch vor, das sprachkritisch das Vokabular gegenwärtiger „Menschenregierungskünste“ (Michel Foucault) analysiert. Kurze Artikel und Essays zu Begriffen wie „Empowerment“, „Selbstverantwortung“, „Lebenslanges Lernen“ oder „Test“ spüren nicht nur der jeweiligen Begriffsgeschichte nach, sondern versuchen auch den ideologischen (neoliberalen) Verwendungskontext aufzudecken.

Der neoliberale Newspeak durchdringt alle Institutionen, die gerade unter dem Diktat der Ökonomie umgebaut werden: vom geschlossenen hin zum offenen Milieu. Michel Foucault und Gilles Deleuze haben diesen Umbau schon in den 80er und 90er Jahren als Übergang vom Typus der Disziplinargesellschaft hin zur Kontrollgesellschaft analysiert. Für die Institution der Schule heißt das: Stabile institutionelle Formen wie Jahrgangsklassen, Klassenräume, feste Zeitrhythmen, Wissenshierarchien werden aufgelöst. Wir befinden uns gerade mitten in diesem Umbauprozess, der sich unterschiedlich schnell vollzieht und zunächst verschiedene hybride Formen produziert. Vor allem aber gewinnt dieser Umbau durch ein Vokabular, dass Christoph Türcke „Schmeichelvokabular“ nennt, hohe Attraktivität: zum einen für bildungs-panische Eltern und zum anderen für viele Junglehrer, die glauben, an einem emanzipatorischen Projekt mitzuarbeiten. Man spricht jetzt von „offenem Unterricht“ und von „Lernlandschaften“. Schon Grundschüler, die sich selbstverständlich „selbst steuern“, werden innerhalb eines „Gruppenpuzzles“ (einer der neuen kooperativen Lernformen) als „Experten“ bezeichnet und Lehrerinnen und Lehrer sind neuerdings „Lernbegleiter“, „Lernpartner“ oder – im Managerjargon – „Lerncoaches“. Gleichzeitig werden die Schülerinnen und Schüler, welche die „neue Lernkultur“ (Türcke) in neobehaviourstischer Manier als kybernetische Regelkreismodelle fasst, Tests und anderen Outputmessverfahren unterworfen. Diese Tests werden dann – wie z. B. die VERA-8-Vergleichsarbeiten – von den Lehrkräften korrigiert, über digitale Portale an die jeweiligen Institute zur Qualitätsmessung weitergeleitet, online gestellt und medial diskutiert. Suggeriert wird, dass die Tests allein dazu dienen, Unterrichtsqualität zu „sichern“. Liest man solche Ranking-Ergebnisse nur oft genug in Zeitungen, online oder in Papierform, hört Debatten darüber im Radio und sieht Diagramme im Fernsehen, so hält man diese Mess- und Vergleichsverfahren irgendwann für völlig normal und notwendig, ohne darüber nachzudenken, was und wie gemessen wird und welches Menschenbild standardisierte Test-Bögen voraussetzen.

Im gegenwärtigen Schul-Diskurs vermischen sich mindestens drei Vokabulare: zum einen ein euphemistisches, das neue Unterrichtsmethoden – oft werbesprachlich – als emanzipatorische Öffnungen preist, letztlich aber die eigentliche Intention verbrämt: nämlich dass die Auflösung hierarchischer Lehrformen und stabiler Raum- und Zeit-Strukturen auf das reizüberflutete und fugitive Verhalten vieler Jugendlicher reagiert, die oft nicht mehr konzentriert zuhören und nachdenken können (eine Form softer und damit verdeckter Disziplinierung). Zum anderen versucht ein ökonomistisches Vokabular Schule als ein Dienstleistungsunternehmen zu beschreiben, in dem Schulleiter zu Firmenchefs mutieren (ohne deren volle Steuerungsmacht zu besitzen), die Außenpräsentation der Schule und die Website immer wichtiger werden, Methoden-Workshops und Projektorientierung Übungspensen ersetzen, Schülerinnenund Schüler Portfolios erstellen und schon früh ihr Lebenslaufleben managen. Und drittens breitet sich rasant ein technizistischer Jargon aus, der sowohl die neuen Top-Down-Strukturen als auch den technokratischen Lern-Begriff kaum kaschiert; aber eingebettet in das Schmeichelund Managervokabular klingen Worte wie „Implementierung“, „Bewertungsraster“ „Monitoring“ oder „Kompetenzentwicklung“ progressivemanzipatorisch statt inhuman.

 

Erschienen in: Scheidewege, Jahresschrift für skeptisches Denken; Herausgegeben von der Max Himmelheber-Stiftung, Jahrgang 2017/2018, Heft 47, S. 288-308, S. Hirzel Verlag, Stuttgart

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