Veröffentlicht am 25.07.12

›selbstregulierter Lerner‹

Wenn die Stimmen der Alten endgültig verstummt sein werden, wenn die feinen begrifflichen Unterscheidungen und pädagogischen Sach-Ansprüche verklungen, wenn das Haus der Akademischen Pädagogik — final entrümpelt und totalsaniert — ausschließlich von alerten Bildungsforschern bewohnt sein wird, wenn also die Bologna-Natives die Schlüsselpositionen in Universitäten, Schulen und Kinderganztagesstätten besetzt haben werden, bricht der Hohe Mittag an, die Stunde der reinen Transparenz, die von keinem Schatten getrübt, von keiner Dialektik in Spannung versetzt, von keinem Zweifel mehr aufgestört werden könnte. Die Eschatologien der Kompetenz, der Methodenorientierung, der Effizienz, der internationalen Vergleichsstudien, der Quantifizierung von Qualität, des Outputs übererfüllen sich im homo superior, nein, im Messias der Messis, dem selbstregulierten Lerner.

Vielleicht klappt er kurz das Visier hoch und schaltet das Kompetenzarsenal auf stand-by, um einen Atemzug lang auf die gleißenden Grabsteine seiner unterlegenen Kontrahenten zu blicken: Den Menschen, das Individuum, das Subjekt, die Person, den Akteur, den Schüler, den Zögling, den Educanden, das Kind!

Der Lerner wähnt sich als Werk seiner Selbst, die Komplementärrolle des Lehrers hat er längst abgestreift, schließlich reguliert er sich selbst. Er ist der Steuermann seiner eigenen Bildungsbiographie, — eine andere Biographie kennt er nicht — , und navigiert auf dem wilden Meer der Sachzwänge, das ihm kompetentes Problemlösen in kontingenten Situationen abverlangt. Dazu ist er gerüstet, weil er seine Kindheit auf dem Methodenkarussell verbracht hat und an der Lerntheke einen laktosefreien Milkshake trinken durfte. Armiert mit kognitiven und metakognitiven, motivationalen und metamotivationalen Kompetenzen reguliert und evaluiert er seine Bewältigungsstrategien, bewirtschaftet souverän seinen Euphoriehaushalt. Er kann nicht nur, sondern will auch wollen können wollen.

An seine Eltern kann er sich nicht mehr erinnern, höchstens an die Betreuerinnen in der Kita. Heilsame Amnesie! Wollte jemand seine Geschichte erzählen, was niemand will, weil es rückwärtsgewandt wäre, würden beschämende Dinge zum Vorschein kommen: Seine Mutter, eine Gütersloher Lehramtsstudentin, aus gutem Hause, direkte Nachfahrin des preußischen Reformers Clausewitz, verlebte ihre ungestümen Jahre in den Vereinigten Staaten. In einer denkwürdigen Nacht — war es Zufall oder glückliche Fügung? — traf sie auf eine Gruppe von Nerds (exzentrische Computernutzer), die sich ein wenig von der anstrengenden Macy-Konferenz entspannen wollten: Norbert Wiener, Heinz von Förster, Gregory Bateson, Kurt Lewin, Warren McCulloch, John von Neumann und viele andere mehr, deren Gesichter im Dunklen blieben. Man munkelt, auch Milton Friedman wäre an dem Abend in der Stadt gewesen, wofür einiges spricht, und vielleicht sogar J. Edgar Hoover, aber dafür gibt es keine Beweise. Und an der Verbreitung von Verschwörungstheorien sollte man sich auf keinen Fall beteiligen! Wie auch immer … man kann verstehen, dass die junge Frau — nach Deutschland heimgekehrt — die Frucht dieser Nacht in die Babyklappe geschoben hat, um sich fortan als Sekretärin mit Ambitionen zu verdingen.

Armer selbstregulierter Lerner! Deine Welt verkümmert zu Lernarrangements, zu Widerständen oder Ressourcen, zu Bewältigungsherausforderungen. Die Anderen sind für Dich Konkurrenten oder Kombattanten. Liebe hast Du nie erfahren, Du selbst hast nichts zu geben, außer ein wenig Sozialkompetenz. Natürlich hast Du den bilingualen Zweig Deiner Schule besucht und einige Semester in Harvard studiert, doch handelt es sich nicht mehr um Sprache, wenn Du Signale absonderst. Dein Wahrnehmen ist Messen, Dein Denken ist Rechnen, Dein Urteilen ist Abgleich von Soll- und Ist-Werten, Dein Handeln ist Funktionieren. Du kennst die Stellschrauben, Du weißt, wo man nachsteuern muss, Du behauptest, wir wären ›gut aufgestellt‹, — ja, sogar auf einem gutem Kurs. Navigare necesse est! Hissen müssen die Matrosen Segel in die Höh’. Du hast es vermutlich längst vergessen, aber ich habe Deine Tränen in Delphi gesehen …

(Quelle: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik, 2/12)