Veröffentlicht am 23.04.14

Die Bologna-Falle

Der Präsident der Universität Hamburg, Dieter Lenzen, benennt das derzeitige Desaster an den deutschen Hochschulen und die Ursachen korrekt, scheut aber die notwendigen Konsequenzen.

Scheitern auf ganzer Linie

„Entspricht das, was heute unter den Zielen von Forschung, Lehre und Bildung im deutschen  Hochschulwesen „nach Bologna“ geschieht, überhaupt noch dem Verständnis einer  akademischen Einrichtung…“ fragt Dieter Lenzen in seinem Essay in der Welt vom 14. Februar – und verneint. Wer als Aufgabe der Hochschulen und Universitäten noch den klassischen Dreiklang aus Forschung, Lehre und Bildung vertrete, wird beim Blick auf die gegenwärtige Praxis davon kaum noch etwas finden.

Stichwort Forschung: „Die Wahrnehmung der vornehmsten Aufgabe der Hochschulen in der Forschung ist also nicht mehr staatlich grundgesichert, sondern abhängig von der Antragsbereitschaft der  Wissenschaftler und von dem produktorientierten Interesse solcher Unternehmen, die kleinere Forschungsaufgaben als Auftragsarbeiten in Hochschulen verlagern.“

Stichwort Lehre: „Durch die Abschaffung des klassischen einphasigen Studiums, das in Deutschland und anderen kontinentaleuropäischen Ländern mit einem Diplom, Lizenziat, Magister oder einem Staatsexamen endete, sowie durch ein zweiphasiges Bachelor-Master-System nach angloamerikanischem Vorbild wurde der Bildungsauftrag der Universität und damit das kontinentaleuropäische Konzept zerstört.“ Den folgenden akademischen Generationen werde „eine wissenschaftliche Aufklärungs- und Erkenntniserfahrung“ verweigert, die zwischen Wissen und Wahrheit auf der einen, Meinung, Offenbarung und  Indoktrination auf der anderen Seite unterscheiden könne. Das duale Ausbildungssystem werde wissentlich und vorsätzlich zerstört und dem nicht vergleichbaren angloamerikanischen System der „Colleges“ und „Universities“ angepasst.

Stichwort Bildung: Der (akademische) Bildungsauftrag wird verkürzt auf zertifizierbare Berufsausbildung: „Die Standardisierung im europäischen Hochschulraum bringt es mit sich, dass man eine Art  „Währung“ für Lehrinhalte benötigt. Damit Lehrangebote und -erfolge vergleichbar sind, müssen sie messbar sein. Messbar sind, bildungswissenschaftlich gesehen, aber nur Wissensakkumulation und Kompetenzerwerb, also Berufsausbildung.“  Wer dann noch die Übersetzung des Begriffs „employability“ sinnverkürzend mit „berufsqualifizierend“ übersetze, produziere „akademisierte“ Banalitäten.

List oder Subversion

Um aus diesem Desaster einen Ausweg zu bahnen, empfiehlt der Präsident der Universität Hamburg „List oder Subversion“. So gebe es europäische Länder, die den Bologna-Vertrag zwar unterschrieben hätten, aber nicht umsetzen. Andere Mittel der Subversion wären „der fachliche Etikettenschwindel, die liberale Auslegung von Anwesenheitserwartungen, die Erweiterung der Zahl von Prüfungswiederholungsmöglichkeiten und damit die Verlängerungsmöglichkeit des Studiums für junge Leute, die etwas längere Lernzeiten benötigen, die Aufnahme von Ethik, Philosophie und allgemeiner Bildung in ein „berufsbildendes“ Curriculum.“ Zumindest den klugen Hochschulleitungen bliebe gar nichts anderes  übrig. Sollte den Hochschulen diese „Besinnung auf das akademische Proprium“ untersagt werden, befände man sich „im Widerstandsfall.“

So richtig die Analyse, so bedauerlich der fehlende Mut, die notwendigen Konsequenzen zu ziehen. Was muss denn noch passieren, um widerständig zu werden? Reicht das bislang angerichtete Desaster nicht, um schon jetzt wieder den Weg der Vernunft einzuschlagen? Nichts spricht dagegen, das Kollegium der eigenen Universität hinter sich zu bringen und schon jetzt wieder die sinnvollen Abschlüsse Diplom, Magister und Staatsexamen einzuführen. Das ist juristisch jederzeit möglich, weil das Bolognapapier die Unterschiedlichkeit und Vielfalt der Studiengänge und Abschlüsse nicht nur zulässt, sondern sogar fordern. (Man muss nur den Bologna-Reader und z.B. das Lissabon-Abkommen von 1997 „gegen den Strich“ lesen, um zu erkennen, dass alle bisherigen Studiengänge und Abschlüsse beibehalten bzw. wieder eingeführt werden könnten.) Ziele sind Vergleichbarkeit zwecks wechselseitiger Anerkennung, nicht Normierung oder Gleichschaltung. Die formale Umrechnung von Diplom oder Magister in Master nach Deutschen bzw. Europäischen Qualitätsrahmen (DQR, EQR) ist ebenso möglich wie Doppelabschlüsse. Man sollte daher nicht primär das Bologna-Papier, man muss den vorauseilenden Gehorsam und die Willfährigkeit auch und gerade der Leitungsgremien der deutschen Hochschulen für den Umbau des deutschen Hochschulsystems nach angloamerikanischem Muster und die Bologna-Falle verantwortlich machen. (1)

Der Blick nach vorne

Statt sich jetzt gegenseitig Versäumnisse und das Versagen im Widerstand beim Umbau der Hochschulen nach Maßgabe von OECD, CHE und (leider auch) der Hochschulrektorenkonferenz unter der Direktive der Hochschulräte  vorzuwerfen, sollten wir nach vorne schauen und das angerichtete Desaster Schritt für Schritt rückgängig machen, um aus der Bologna-Falle herauszukommen. Denn so, wie selbst der amtierende HRK-Präsident und Physiker Horst Hippler Bachelor-Absolventen „nie im Leben als Physiker“ bezeichnen würde, dürfte auch das Vertrauen in Ärzte. Juristen . Lehrer oder Ingenieure mit Bachelor gering sein. Daher sollen (nicht nur) die Präsidenten, sondern die gesamten Kollegien der Universitäten und Hochschulen die eklatanten Fehlentwicklung beim Umbau der akademischen Bildungseinrichtungen erkennen – und beenden. Verblendet in die falsche Richtung gelaufen zu sein ist das Eine. Sehenden Auges den falschen Weg weiter zu gehen, nur weil man ihn (aus welchen Gründen auch immer) eingeschlagen hat, etwas ganz anderes. Nicht Fehler zu machen ist verwerflich, sondern die erkannten und offensichtlichen Fehler zu verleugnen bzw. kaschieren zu wollen. Daher könnte man mit Kant sagen: Sapere aude. „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“  Das heißt konkret, das bundesdeutsche duale Bildungssystem zu stärken und sich parallel auf die Traditionen der bundesdeutschen Hochschulen und Universitäten zu besinnen, statt „hohe Akademikerquoten“ durch banalisierte Studiengänge zu produzieren, deren Absolvent(inn)en dann als akademisches Prekariat (wie in den südlichen Ländern der EU) mangels fachlicher Qualität und Akzeptanz auf dem Arbeitsmarkt keine Anstellung finden und wo hohe Akademikerquoten mit hoher Jugendarbeitslosigkeit korreliert.

Nachsatz

Dass die Hochschulrektorenkonferenz (HRK) diese Äußerungen ihres Sprechers Lenzen als „Position des Hamburger Uni-Prädidenten“ und nicht als Verlautbarung eines Mitglied der HRK-Uni-Gruppe verstanden wissen will, wundert nicht. Wer die Rolle des Gremiums HRK beim Umbau der Hochschulen nach OECD-Maxime beobachtet (hat), wird das Eigenlob der HRK als „Die Stimme der Hochschulen“ eher als „Die Stimme der Wirtschaft an den Hochschulen“ übersetzen. Dazu sollte man wissen:

Das Centrum für Hochschulentwicklung (CHE) wurde 1994 in gemeinsamer Trägerschaft der Hochschulrektorenkonferenz (HRK) und der Bertelsmann Stiftung gegründet. Juristisch nur eine private Politikberatungsagentur, hat das CHE seit seiner Gründung massiv Einfluss auf den Umbau des staatlichen Hochschulsystems gemäß privatwirtschaftlicher Interessen genommen. Selbst nicht konsensfähige Ziele wie z.B. Studiengebühren wurden, ohne nennenswerten Protest der HRK, durchgesetzt (wenn auch mittlerweile als Fehlplanung und politisches Desaster fast überall wieder abgeschafft). Das Ziel des wissenschaftsfremden, nur marktwirtschaftlich gedachten Wettbewerbs der Hochschulen untereinander, die sinnfreie Ausrichtung an Kennzahlen des sogenannten „Qualitätsmanagements“ (dessen Irrelevanz für Forschungs- und Bildungseinrichtungen mittlerweile ebenfalls stringent ist) und der Wettbewerb um Finanzmittel hat das CHE gleichwohl durchgesetzt. Ziel ist der Umbau der vielfältigen Bildungslandschaft zu einem monopolisierten  Bildungsmarkt.

Nicht nur Kritiker bezeichnen das CHE daher als „heimliches Bildungsministerium“, dem es egal ist, wer in Berlin die Vorgaben des CHE (bzw. Bertelsmann und der OECD) exekutiert. Auch aus dieser Falle können sich die Hochschulen bzw. die akademischen Kollegien nur gemeinsam befreien, mit oder gegen die Hochschulräte, mit oder gegen die Rektorate und gegen das CHE.

—————————–

(1) Diese Kritik Lenzens am Bologna-Prozess korrespondiert mit seiner generellen Kritik der Hochschulrankings, die als falsch konzipierte Instrumente auch durch Modifikationen nicht besser würden. Sie seien „dysfunktional und brächten mehr Schaden als Nutzen“. (Lenzen, Ranking, 2012). Diese Dysfunktionalität und das dadurch zu erwartende Schadenspotential wird nun konsequent für den gesamten Bologna-Prozess erkannt.

Lenzen, Dieter [Falle, 2014]:  Die Falle von Bologna, in: Die Welt, 14.4.2014
Lenzen: Ranking, Rating – Steuerung und Motivation (2012)

Der Beitrag als PDF: Lankau zu Lenzens_Bologna-Falle