Veröffentlicht am 30.10.14

„Wer keine Ahnung von Geschichte hat, dem hilft auch Wikipedia nicht weiter“

In seiner Streitschrift „Geisterstunde. Praxis der Unbildung“ rechnet der Philosoph Konrad Paul Liessmann mit den Moden des Nichtwissens ab. Ein Gespräch über PISA, Bologna und Adam und Eva von Ferdinand Knauß (WiWo)

WirtschaftsWoche Online: Herr Liessmann, Ihr neues Buch heißt ‚Praxis der Unbildung‘. Wissen wir alle zu wenig?

Konrad Paul Liessman: Mir geht es nicht um Unbildung in dem Sinne, dass man zu wenig gelesen hat oder vieles nicht weiß. Wir wissen alle immer zu wenig. Es gab immer mehr in den Archiven und Bibliotheken, als man als einzelner wissen kann. Mir geht es um die Begriffsverwechslung, die darinbesteht, dass man uns bestimmte Einrichtungen und Entwicklungen als Bildung verkaufen will, obwohl es sich dabei um Dinge handelt, die die Idee der Bildung sabotieren und zerstören.

WirtschaftsWoche: Ihr Buch ist eine Streitschrift. Die schreibt man, weil man wütend ist. Was ist der Anlass für Ihre Wut?

KPL: Mich hat die Hörigkeit gegenüber der PISA-Ideologie wütend gemacht, die Ausrichtung des gesamten Bildungssystems in Deutschland und Österreich an einem höchst fragwürdigen Test. Der zweite Grund, der auch schon für mein Vorgängerbuch „Theorie der Unbildung“ eine große Rolle spielte, ist die so genannte Bologna-Reform der Universitäten. Dazu kommt noch die Kompetenzorientierung in den Studien- und Lehrplänen, die ich sehr kritisch sehe.

Wirtschaftswoche: Also das Ersetzen des Bildungszieles Wissen durch Fähigkeiten.

KPL: Keiner weiß genau, was diese Kompetenzen bedeuten. Sie sind höchst fragwürdig, völlig schwammig, ideologisch aufgeladen und beliebig. Wie kam es dann dazu, dass man sie für so wichtig hält? Das kommt historisch eher aus der Wirtschaft. Ursprünglich bedeutet Kompetenz so etwas wie Zuständigkeit. Ein Minister kann sagen: Dieses Thema fällt nicht in meine Kompetenz. Aber so wird das Wort kaum noch verwendet. Der heutige Kompetenzbegriff entstand im Zuge der Taylorisierung von Arbeitsprozessen. Also durch den Versuch, nicht nur zu messen, wie lange es dauert, bis ein Arbeiter bestimmte Arbeitsschritte vollzogen hat, sondern auch zu bestimmen, wie diese Leistungen verbessert werden können – indem man die zugrunde liegenden Fähigkeiten beobachtet und dann den Arbeiter schult und optimiert. Der Gedanke dahinter ist also, den Menschen aufzusplittern in einzelne, isoliert zu bewertende Fähigkeiten.

Das Interview in der Wirtschaftswoche

Der Beitrag als PDF: Liessmann: Wer keine Ahnung von Geschichte hat

Siehe auch das Video-Interview der NZZ: Die verblassende Idee von Bildung

Über Bildung unter dem Diktat von Nützlichkeit und Verwertbarkeit und Bildung um ihrer selbst willen, über Wesen und Wert eines Bildungskanons und das, was die aktuelle Bildungsdiskussion über unsere Gesellschaft aussagt.Konrad Paul Liessmann im Gespräch mit Journalisten der „Neuen Zürcher Zeitung“ über sein neues Buch „Geisterstunde. Praxis der Unbildung“.

Das Buch: Konrad Paul Liessmann: Geisterstunde. Die Praxis der Unbildung. Eine Streitschrift. Wien 2014