Veröffentlicht am 24.08.16

Lehrer raus!

Ein PROFIL-Beitrag von Christoph Türcke

Das Gebot der Stunde: Der Lernende braucht keine Lehrer mehr, sondern Lernbegleiter, die überall zur Stelle sind, wo Lernende gerade nicht weiterkommen und eine spezielle Förderung nötig haben.

In frühkapitalistischer Zeit hatten die Beschäftigten Lebensmittel und Heizmaterial gefälligst selbst in die Fabrik mitzunehmen, wie sie auch selbst fürs Alter vorzusorgen und Ärzte zu bezahlen hatten. Erst lange gewerkschaftliche Kämpfe nahmen die Betriebe nach und nach für angemessene Ausstattung des Arbeitsplatzes, für Beteiligung an Alters- und Krankenversor- > gung, Lohnfortzahlung während des Erholungsurlaubs und im Krankheitsfall sowie Fortbildung in die Pflicht. All diese Verantwortlichkeiten stehen wieder zur Disposition, seit es jene kleinen Universalmaschinen gibt, die heutzutage nahezu jeder in der Akten- oder Hosentasche mit sich führen kann. Sie lassen sich in einem Firmengebäude genauso bedienen wie in einer Privatwohnung. Wohn- und Arbeitsraum, Privat- und Berufssphäre, Freizeit und Arbeitszeit gehen wieder ineinander über. Warum soll man für Arbeiten, die feste kollektive Arbeitsräume gar nicht mehr erfordern, feste Lohnverpflichtungen eingehen? Warum nicht jeden Computerbesitzer als Selbständigen erachten, den man als Lieferanten von Arbeitsleistungen bezahlt, statt ihn dauerhaft einzustellen? Der hübsch selbst für seine Infrastruktur und Versicherungen aufkommt, dafür aber auch seine Arbeits- und Freizeit völlig frei und selbständig organisieren darf – wenn er seine Leistungen nur vertragsgemäß erbringt.

So läuft die flexibilisierte, deregulierte Arbeitswelt. Nur die Bildungswelt hinkt noch hinterher. Immer noch gibt es feste gemeinsame Unterrichtsräume und -zeiten, homogene Unterrichtsgruppen mit festem Fächerkanon und einem pauschal für ganze Jahrgänge vorgegebenen Pensum. Und vor allem Lehrer, die ganzen Schülergruppen in der gleichen Zeit das gleiche Fachpensum vorexerzieren und abverlangen, obwohl doch jeder Schüler anders tickt und das wirkliche Leben nicht in den Schubladen von Fächern verläuft. Schluss damit, fordert die neoliberale Bildungsideologie. Zeitgemäßer Unterricht soll sich an den persönlichen Interessen und dem individuellen Tempo der Lernenden orientieren. Er braucht keine Lehrer, sondern Lernbegleiter, die überall zur Stelle sind, wo Lernende gerade nicht weiterkommen und eine spezielle Förderung nötig haben. Mobile Coaching-Teams, die in den Umgang mit der neuen medialen Lernwelt einüben, in offenen Lernräumen, aber auch online beraten, sind das Gebot der Stunde. Statt Lehrplänen, die alle Lernenden einer Alters- oder Leistungsstufe auf die Erlangung bestimmter Sach- und Fachkompetenzen verpflichten, soll ein neues, flexibles Kompetenzdesign treten, worin soft skills (Teamfähigkeit, soziale, kommunikative und mediale Kompetenz) obenan stehen und hard skills (Sach- und Fachkompetenzen) nur noch als deren Diener fungieren.

In: PROFIL, Magazin des Deutschen Philologenverbandes, Ausgabe 06/2016

Der PROFIL-Beitrag als PDF: 6_2016_Türcke_Lehrer_raus